Stichtag

10. November 2006 - Vor 15 Jahren: "Soldatenmütter von St. Petersburg" gegründet

"Dedovscina" ist russisch, bedeutet so viel wie "Großväterherrschaft" und beschreibt ein grausames Ritual in der russischen Armee: Rekruten werden von dienstälteren Soldaten drangsaliert, misshandelt und sogar ermordet. "Andrej wurde erhängt, aber den Eltern schickten sie den Sarg und sagten, er habe es selbst getan", erzählt die Vorsitzende der Organisation "St. Petersburger Soldatenmütter", Ella Poljakowa. "Wir haben die Leiche untersucht und ein unabhängiges Gutachten anfertigen lassen." Drei Kameraden von Andrej haben zugegeben, ihn erhängt zu haben. Mit sieben anderen Rekruten sei das gleiche passiert. Allein 2005 sterben 1.300 Soldaten der russischen Armee außerhalb von Kampfhandlungen - durch Selbstmord, Unfälle, Mord und Totschlag unter Kameraden. 6.000 Soldaten werden verletzt.

Ende der 80er Jahre bescheren Glasnost und Perestroika den Bürgen Russlands mehr Freiheiten. Gleichzeitig geht es in der technisch veralteten und moralisch desolaten Armee immer brutaler zu. Deshalb schließen sich Mütter zusammen, die nicht länger hinnehmen wollen, wie ihre Söhne in der Truppe behandelt werden. Am 10. November 1991 gründet Pazifistin Poljakowa mit neun Bürgerrechtlern die Organisation der St. Petersburger Soldatenmütter: "Ich persönlich bin gegen jede Armee! Ich meine, dass eine intakte menschliche Gesellschaft ohne militärische Strukturen auskommen kann. Der Mensch hat das Recht, keinen Militärdienst zu leisten."

Im ersten Tschetschenien-Krieg versuchen die St. Petersburger Mütter ihre Söhne vom Schlachtfeld zu holen. Ihr Marsch auf Grosny ist mutig, aber vergeblich: Das russische Militär stoppt die Frauen und schickt weitere Wehrpflichtige in den Krieg in den Kaukasus. Mittlerweile gibt es Soldatenmütter in fast jeder größeren Stadt Russlands. Ihre Büros sind erste Anlaufstelle für zehntausende Deserteure und misshandelte Rekruten. Hinter ihnen liegt oft ein monatelanges Martyrium. Für ihre Menschenrechtsarbeit erhalten die Soldatenmütter 2004 den Aachener Friedenspreis. In Russland aber machen Militär und Politik den Frauen noch immer die Arbeit schwer. Einschüchtern lässt sich Ella Poljakowa aber nicht: "Einmal kamen Generäle zu uns. Wir standen uns gegenüber und der General sagte zu mir: Wenn Sie keine Frau wären, würde ich Sie... Ich meinte zu ihm: Denken Sie doch mal nach, wenn Sie mich umbringen, machen Sie mich zur Jeanne d'Arc. Eine Heldin können Sie nicht brauchen, und wenn sie mich verprügeln - davor habe ich keine Angst. Er hielt nur die Luft an."

Stand: 10.11.06