Der 10. Juli 1976 ist ein trockener, heißer Sommertag in Seveso. Und doch ist etwas anders. Es riecht nach Medikamenten und Desinfektionsmitteln. Die Bewohner der italienischen Gemeinde in der Provinz Mailand müssen sich die Taschentücher vor die Nase halten, um atmen zu können. Aber das eigentliche Übel, das über ihrem Städtchen schwebt, ist geruchlos, unsichtbar und zehntausend Mal giftiger als Zyankali: Dioxin.
Die tödliche Wolke kommt aus der Chemiefabrik ICMESA in Medea, 25 Kilometer nördlich von Mailand. Hier wird Trichlorphenol (TCP), ein Vorprodukt für Desinfektionsmittel, produziert. Ein Vorarbeiter hat entschieden, die TCP-Anlage zum Wochenende abzuschalten, obwohl die Produktion noch nicht abgeschlossen ist. In Kessel 101 kommt es zu einem Wärmestau, die chemische Mischung erhitzt sich, die Stoffe reagieren, der Kessel explodiert.
Dioxin wird freigesetzt, da man an einem Sicherheitsbehälter gespart hat. Dioxin ist stark krebserregend. Schon 25 bis 26 Mikrogramm pro Kilogramm reichen, um eine Ratte zu töten. Ein bis zwei Kilogramm entweichen aus dem Reaktionskessel der Fabrik. Einen Tag später informiert der Werksleiter die Bürgermeister von Meda und Seveso. Es handle sich bei den Gasen in der Luft um harmlose Stoffe, gibt er an. Gefahr für die Bevölkerung bestehe nicht. Der Präsident des Konzerns, der in Brasilien unterwegs ist, wird von seinen Untergebenen nicht benachrichtigt.
Aber in Seveso sterben die Tiere: erst die Hühner, dann die Kaninchen und Katzen, später die Schafe. Sie magern bis auf die Knochen ab und verenden qualvoll. Die Bewohner ergreift Panik. "Als die Kaninchen starben, dachten wir, bald werden auch die Menschen sterben", sagt eine Betroffene. Drei Tage nach dem Gasaustritt klagen die Kinder über aggressiven Hautausschlag, kratzen sich wegen der Chlorakne die Körper blutig.
Im Krankenhaus melden sich immer mehr Menschen mit den für die Mediziner rätselhaften Symptomen. Erst 13 Tage nach dem Unfall wird offiziell bekannt gegeben, dass die Giftwolke über Seveso aus Dioxin bestand. Die italienischen Behörden ordnen die Zwangsevakuierung der Region an. 208 Menschen müssen binnen 24 Stunden ihre Häuser verlassen. Die Bewohner dürfen nichts mitnehmen. Später werden die Häuser von rund 800 Menschen abgerissen. Die Bilanz: 19.000 Hektar verseuchtes Land, rund 30.000 Betroffene.
Drei Jahre nach dem Unfall wird die verseuchte Erde abgetragen und in einer riesigen Betonwanne im Boden versenkt. Die Beteiligen werden freigesprochen oder zu anderthalb bis zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. 1982 soll der Inhalt des Unglückskessels in 41 Fässern entsorgt werden. Die Fässer verschwinden spurlos. Erst ein Jahr später tauchen sie in Südfrankreich wieder auf. Ihr Inhalt wird 1985 verbrannt. Das "Sperrgebiet A" in Seveso ist heute ein Naherholungsgebiet. Einige Entschädigungsklagen laufen immer noch.