Grausame Rituale erdulden junge Rekruten in vielen Armeen – in Russland sind die Schikanen besonders brutal. Das Wort Dedowschtschina, das bedeutet die "Herrschaft der Großväter", beschreibt, wie Dienstältere die jungen Wehrpflichtigen demütigen. Rekruten werden von Vorgesetzten erpresst, gequält, manchmal ermordet. "Weil es an ausgebildeten Offizieren fehlt – weil eben jeder, der es kann, sich freikauft – kommt der Bodensatz der Gesellschaft in die Armee, auch in die Führungsriegen", sagt die langjährige ARD-Russlandkorrespondentin Karla Engelhard.
Laut dem russischen Verteidigungsministerium soll es im Jahr 2010 allein von Januar bis September rund 1.700 Opfer von Dedowschtschina-Praktiken gegeben haben. Bekannt wurde zum Beispiel auch der Fall des 19-jährigen Andrei Sytschow. Seine Vorgesetzten misshandelten ihn im Jahr 2006 so schwer, dass ihm seine Beine, die Genitalien und Teile der rechten Hand amputiert werden mussten.
Die Russen verehren ihre Mütter
Gegen diese grausamen Übergriffe kämpft die "Union der Komitees der Soldatenmütter Russlands", die rund 100 regionale Gruppen hat. Am 10. November 1991 hat die Pazifistin Ella Poljakova mit neun Bürgerrechtlern die Organisation der "Soldatenmütter von St. Petersburg" gegründet.
In ihren Büros beraten die "Soldatenmütter" überall in Russland Deserteure und Opfer von Gewalt in der Armee. Ella Poljakova hört viele Geschichten, zum Beispiel die des Soldaten Andree, der erhängt aufgefunden wurde. Selbstmord, erklärte die Armee. "Wir haben den Sarg untersucht und ein unabhängiges Gutachten anfertigen lassen", sagt Ella Poljakova. Die Armeeführung musste zugeben, dass drei Kameraden ihn erhängt hatten – und dass mit sieben weiteren Männern dasselbe geschehen war.
Trotz Willkür und Brutalität ist die russische Armee in der Bevölkerung hoch angesehen – genauso wie die Arbeit der "Soldatenmütter" übrigens. Für die Russlandkennerin Karla Engelhard ist das kein Widerspruch. "Das ist die Schizophrenie der russischen Gesellschaft: 80 Prozent der Russen sind noch der Überzeugung, dass die Armee aus dem Mann erst einen Mann macht. Dazu gehört Brutalität und Disziplin." Gleichzeitig verehrten die Russen ihre Mütter und kehrten immer wieder in ihren Schoß zurück.
Hessischer Friedenspreis für die "Soldatenmütter"
Für ihr Engagement haben Ella Poljakova und die "Soldatenmütter" 2015 den Hessischen Friedenspreis erhalten. In ihrer Heimat aber werden sie von den Behörden argwöhnisch beobachtet. 2014 wurde die Organisation auf die Liste "ausländischer Agenten" gesetzt, weil sie Geld aus dem Ausland angenommen hatten. Gleichzeitig unterstützte das Präsidialamt die Organisation bis 2014 selbst mit Geld. Eindeutig festlegen können sich die Behörden bei den "Soldatenmüttern" also nicht.
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