Berlin, 21. März 1921: Gegen elf Uhr verlässt Talât Pascha seine Acht-Zimmer-Wohnung im Stadtteil Charlottenburg. Er hat sie unter falschem Namen gemietet. Minuten später ist der Mann, tot. Erschossen auf der Hardenbergstraße in der Nähe vom Bahnhof Zoo. "Mehmet Talât Pascha war der letzte Großwesir des Osmanischen Reichs", sagt Kulturhistoriker und Journalist Rolf Hosfeld. Er sei im Oktober 1918, kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges, mit einem deutschen Torpedoboot über die Krim nach Berlin entkommen. Der Grund für die Flucht: "Es gab ein Auslieferungsverlangen seitens der Alliierten."
Obwohl Talât Pascha in Berlin inkognito lebt, findet ihn sein Mörder. Er heißt Soghomon Tehlirian und ist Armenier. Als am 2. Juni 1921 vor dem Landgericht Moabit der Prozess gegen ihn eröffnet wird, verteidigt er sich mit der Argumentation: "Ich habe ihn getötet, aber ich bin kein Mörder." Er habe das Attentat nicht aus niederen Motiven verübt. "Es war der Vollzug einer gerechten Strafe - in seinen Augen - für das, was Mehmet Talât den Armeniern in leitender Funktion als türkischer Innenminister und als späterer Großwesir des Osmanischen Reichs angetan hat, nämlich die Vernichtung von weit über einer Million seiner Landsleute", so Kulturhistoriker Hosfeld. "Unter anderem seiner eigenen Eltern."
Bis zu 1,5 Millionen Armenier ermordet
Die Vorgeschichte: Im Januar 1913 putscht sich am Bosporus ein Triumvirat aus Talât Pascha, Enver Pascha und Djemal Pascha an die Macht. Die sogenannten Jungtürken wollen einen ethnisch homogenen Nationalstaat errichten. Dieser soll muslimisch geprägt sein - ohne christliche Minderheiten, die seit Jahrhunderten als Untertanen zweiter Klasse im Osmanischen Vielvölkerreich leben. Im November 1914 treten die Osmanen an der Seite der Mittelmächte in den Ersten Weltkrieg ein und eröffnen im historischen Armenien, dem heutigen Ostanatolien, die Kaukasusfront gegen Russland.
Armenische Freiheitskämpfer hingegen unterstützen die zaristische Armee. Die jungtürkische Regierung benutzt dies als Vorwand für die systematische Deportation und Ermordung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern sowie hunderttausender anderer osmanischer Christen. "Unterschiedslos wurden Frauen und Männer, Kinder und Greise, verschleppt, auf Todesmärsche geschickt, ohne jeden Schutz und ohne jede Nahrung, in Steppe und Wüste ausgesetzt, auch bei lebendigem Leibe verbrannt, zu Tode gehetzt, erschlagen, erschossen", sagt Bundespräsident Joachim Gauck im April 2015. In seiner Rede stuft er als erstes deutsches Staatsoberhaupt offiziell als Völkermord ein, was zwischen 1915 und 1916 in Ostanatolien und in der mesopotamischen Wüste geschehen ist - mit Wissen und Billigung des damaligen Bündnispartners der Osmanen, dem Deutschen Kaiserreich. Die offizielle Türkei leugnet und bagatellisiert die Verbrechen bis heute.
Mörder von Talât Pascha freigesprochen
"Der Prozess hatte, ohne es zu wollen, eine enorme rechtspolitische Bedeutung", sagt Hosfeld, Autor zweier Bücher über den armenischen Völkermord. "Weil zum ersten Mal für die Öffentlichkeit deutlich wurde, dass das Internationale Recht Lücken hat." Einer, der diese Lücken schließen hilft, ist der damalige Jurastudent Raphael Lemkin, der das Berliner Verfahren in der Zeitung verfolgt und zum Vater der UN-Völkermordkonvention von 1948 wird.
Der Angeklagte Soghomon Tehlirian wird nach nur anderthalb Tagen Verhandlung freigesprochen. Er verlässt Europa, gründet in den USA eine Familie und stirbt 1960 in San Francisco. Wovon die Geschworenen im Prozess vor dem Landgericht Berlin-Moabit 1921 keine Ahnung haben: Tehlirian hat gelogen. Er ist nicht jener Student der Ingenieurswissenschaften, der er vorgab zu sein. Er war ein armenischer Revolutionär. Das Attentat auf Talât Pascha hatte er im Auftrag einer armenischen Geheimorganisation verübt. In den Jahren 1920 bis 1922 starben acht ehemalige jungtürkische Führer durch Kugeln dieser Gruppe. Sie nannte sich "Operation Nemesis". Nemesis ist in der griechischen Mythologie die Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit.
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Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.
"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.05 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 2. Juni 2016 ebenfalls an den Prozess gegen Soghomon Tehlirian. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.