Ost-Berlin, 1971: Auf dem 8. Parteitag der SED beklagt sich der neue Generalsekretär über eine gewisse "Langeweile im Fernsehen". Das ist erstaunlich: Fünf Jahre zuvor hat er zu jenen gehört, die auf dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED Künstler und Intellektuelle für angeblich gefährliche Umtriebe der DDR-Jugend verantwortlich machten. Filme wurden verboten, Bücher eingestampft und Wissenschaft behindert. Plötzlich, nach dem Sturz von Walter Ulbricht, verkündet dessen Nachfolger Erich Honecker nun, man müsse den Erwartungen der Werktätigen und für mehr Spannung und Unterhaltung im Fernsehen sorgen.
Im Jahr zuvor ist die ARD-Krimi-Reihe "Tatort" angelaufen, mit großem Erfolg in West- und Ostdeutschland. "Wir haben uns dann hingesetzt und eine Konzeption entworfen für eine völlig neue Reihe", sagt Eberhard Görner, damals Dramaturg beim "Polizeiruf 110". Im Sozialismus sei das Thema Kriminalität allerdings tabu gewesen. "Denn man hat ja beispielsweise bei der 'Blaulicht'-Reihe immer versucht, Kriminalität in der DDR der Bundesrepublik in die Schuhe zu schieben." Bei "Polizeiruf 110" soll das nun anders werden: "Hier ging es plötzlich darum: Warum klaut ein Bauarbeiter Zement? Warum verfällt ein Handwerker dem Alkohol? Was bringt das für private Probleme, dass es nicht genügend Wohnungen gibt?"
"Fachberater" bestimmen über Delikte
Nur wenige Wochen später ist im DDR-Fernsehen das Ergebnis zu sehen. Die erste Folge trägt den Titel "Der Fall Lisa Murnau" und wird am 27. Juni 1971 gesendet. Es geht um einen Postraub mit schwerer Körperverletzung. Ein Reporter erklärt im DDR-Radio den Zuhörern das Konzept: "Der Polizeiruf will sich vom Actionkrimi alter Schule distanzieren, der seinen Unterhaltungswert aus Actionszenen wie etwa Verfolgungsjagden bezieht und mehr zum Knobeln über den möglichen Täter als zum Nachdenken, warum einer zum Täter wurde, animiert."
Die Dramaturgen von "Polizeiruf 110" entwickeln ihre Reihe zusammen mit sogenannten Fachberatern aus dem DDR-Innenministerium. Bei jeder Stoffentwicklung sitzen Genossen der Hauptabteilung Volkspolizei mit dabei. Was die behandelten Delikte anging, habe es zwar eine gewisse Lenkung gegeben, sagt Dramaturg Görner. Inhaltlich seien er und seine Kollegen aber nicht gegängelt worden.
Ermittler ohne Eigenschaften
Die Ermittlungen der neuen Fernsehreihe führt die "Einsatzgruppe Fuchs". Sie ist für alle Arten von Delikten zuständig und ist in der gesamten DDR unterwegs. Ihre Mitglieder sind zunächst ohne Eigenschaften: Sie haben keine Familie, dürfen nicht rauchen, gehen Alkohol aus dem Weg. "Erotische Abenteuer waren leider auch nicht gestattet", sagt Dramaturg Görner. "Wir haben dann sozusagen eine Lockerung nach der anderen durchgesetzt." Gefühle werden am Anfang nur den Tätern und ihren Opfern zugestanden, erst in der Folge 118, "Der Mann im Baum" (Erstausstrahlung: 13.03.1988), darf eine junge Polizeischulabsolventin auf einen Mann einschlagen, der reihenweise Frauen vergewaltigt hat.
Bei der Auswahl der Delikte gilt die offizielle Kriminalstatistik der DDR als Maßstab. Die "Einsatzgruppe Fuchs" ermittelt deshalb vor allem bei Einbruch, Diebstahl und Körperverletzung. Das Wort Mord sei vermieden worden, sagt Görner. Stattdessen habe man von Körperverletzung mit tödlichem Ausgang gesprochen. Trotzdem versteckt sich in jedem "Polizeiruf" so viel Kritik an der DDR, dass mindestens 40, manchmal sogar bis zu 70 Prozent aller Zuschauer die Sendung einschalten. Als nach der Wende das DDR-Fernsehen abgeschaltet wird, hat es die Krimireihe auf 144 Folgen gebracht und lebt weiter: Ab 1993 nehmen neue Ermittler ihre Arbeit auf – in Ost- und Westdeutschland und in Österreich.
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.
"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.05 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 27. Juni 2016 ebenfalls an den Start der Krimireihe "Polizei Notruf 110" im DDR-Fernsehen. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.