Los Angeles, 25. August 1955: Im Beverly-Hills-Hotel lassen Komponist Leonard Bernstein und Drehbuchautor Arthur Laurents ihre Beine im Pool baumeln. Sie reden über das gemeinsame Projekt, das seit mehr als sieben Jahren nicht vorankommen will. Seit 1949 beschäftigen sie sich mit einer modernen Version von William Shakespeares "Romeo und Julia" als Musical.
Eine der angedachten Umsetzungen ist die Liebesgeschichte eines jüdischen Mädchens und eines irischen Katholiken im New York der 1940er Jahre. Aber die Idee zündet nicht. An diesem August-Donnerstag springt endlich der kreative Funke über - beim Blick auf die Schlagzeile der "Los Angeles Times": "Sechs Täter im Gefängnis nach tödlichem Bandenkonflikt".
Artikel liefert Idee
Es ist ein Artikel über den gewaltsamen Tod von Robert C. Garcia, dem Anführer einer Gang von jungen Südamerikanern, den "Junior Raiders". Garcia ist 20 Jahre alt als er, nach einem Faustkampf mit einem Rivalen aus einer anderen Gang, stirbt. Ohne diesen Artikel gäbe es die "West Side Story" vermutlich nicht.
"Wir hatten die Idee zu einer neuen Art von Musik-Theater. Und wir waren uns intuitiv einig, was wir damit meinten", sagt Laurents später. Bernstein ergänzt: "Die meisten Leute meinten: Diese Idee ist Quatsch. Du kannst kein Musical an den Broadway bringen, in dem es so viel Hass gibt und Feindseligkeit. Aber wir haben daran festgehalten."
Team aus vier Experten
Das Thema ist damals topaktuell: Feindseligkeit, die sich auf den Straßen New Yorks in den Bandenkriegen zwischen den Zuwanderern aus Puerto Rico und den Weißen im Armenviertel Harlem entlädt.
Die Ideen bei den Machern der "West Side Story" sprudeln. Von Anfang an dabei ist auch US-Choreograf Jerome Robbins: "Der eine hatte eine Idee für eine Szene, der andere hatte die passenden Verse. Es war ein Geben und Nehmen - ohne Pause." Robbins, Laurents und Bernstein merken bald, dass noch ein Texter fehlt. Stephen Sondheim, gerade einmal Mitte 20, gut zehn Jahre jünger als die drei anderen, stößt als Letzter dazu.
Selbst benachteiligt
"Jede Figur in den beiden Gangs war eine individuelle Persönlichkeit, hatte einen Namen", erklärt Sondheim. "So haben wir später auch die Darsteller gecastet. Sie hatten unverwechselbare Stimmen. Heute ist das ganz normal im Musical. Damals war es eine verrückte Idee."
Das Stück hat auch mit der Situation der vier Männer zu tun, mit ihrem Gefühl, zwei Minderheiten anzugehören. Sie sind Juden und schwul. "Das hat uns zusammengeschweißt: dieses Gefühl, dass Minderheiten benachteiligt werden in Amerika", sagt Laurents stellvertretend.
Musik charakterisiert Gangs
Am 26. September 1957 wird die "West Side Story" am Broadway im "Winter Garden Theatre" uraufgeführt. Zwei Jugendbanden, die "Jets", die in den USA Geborenen, und die "Sharks", die Zugewanderten, kämpfen auf der Bühne erbittert um die Vorherrschaft.
"Im ganzen Stück werden die 'Jets' hauptsächlich durch den Jazz charakterisiert, während die gegnerische Gang, die Puerto-Ricaner, durch ihre lateinamerikanische Musik charakterisiert sind", erklärt Christoph Wohlleben, der seit drei Jahrzehnten Musicals dirigiert.
Weltruhm als Film
Auch das Musical-Paar Tony und Maria - die moderne Version von Romeo und Julia - hat seine eigene Musik. "Maria ist musikalisch gesehen keine Puerto-Ricanerin und Tony ist musikalisch gesehen kein 'Jet' mehr in dem Moment, wo beide sich begegnen", sagt Dirigent Wohlleben. "Sie lassen ihre Vergangenheit hinter sich."
Die Kritiken des Stück sind gut, aber nicht überragend. Die "West Side Story" wird erst ein paar Jahre später ein Welthit: als Film, der 1962 mit zehn Oscars ausgezeichnet wird. Seither wird das Musical weltweit immer wieder inszeniert. Sein Thema ist zeitlos: "Wie kann die Liebe überleben in einer gewalttätigen Welt voller Vorurteile? Darum geht es in diesem Stück", sagt Drehbuchautor Laurents.
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 26. September 2017 ebenfalls an die Uraufführung des Musicals "Westside Story". Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
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