Zuerst ist es nur ein kleines Loch, das die zwei aufeinander zulaufenden Röhren unter dem höchsten Gipfel Europas verbindet. Von der italienischen Seite werden Marsala-Wein und ein Zettel mit Glückwünschen durch die Öffnung gereicht, von der französischen Seite kommt Champagner zurück. Lediglich eine schmale Gesteinswand trennt noch die Mineure, die seit mehr als drei Jahren vom Aostatal und von Chamonix aus einen Tunnel durch den Mont Blanc bauen.
Bereits zur Zeit der Erstbesteigung des Bergs im 18. Jahrhundert war die Vision entstanden, Italien und Frankreich mit einem Tunnel durch den Mont Blanc zu verbinden. Aber erst 1949 einigen sich die beiden Länder auf ein Abkommen zum Bau des Mammutprojekts. Als erste wintersichere Alpenverbindung soll ein 11,6 Kilometer langer Straßentunnel die Fahrstrecke Paris-Rom um 440 Kilometer verkürzen. 15 Minuten wird die Fahrt durch den Berg künftig dauern.
Mit Presslufthämmern durch Granit
Die Arbeitsbedingungen für die Baumannschaften sind schier unmenschlich. Im Berginnern herrschen bis zu 50 Grad Hitze. Bewetterungsgeräte blasen ungeheure Mengen Frischluft in den Tunnel, um die Temperaturen zumindest auf ein erträgliches Maß zu senken. Ständig werden die Tag und Nacht schuftenden Mineure von Steinschlägen und Wassereinbrüchen bedroht. Nicht selten stehen sie urplötzlich hüfthoch in eiskaltem Grundwasser.
Brüchiges Kalkgestein wechselt mit hartem Granit und bringt selbst die leistungsstärksten Presslufthämmer an ihre Grenzen. Viele Arbeiter erleiden Vergiftungen durch die Abgase der Baufahrzeuge. Mehrere Male ereignen sich schwere Unglücke. Arbeitsbühnen und Pfeiler der Gewölbeabstützungen brechen zusammen und verschütten die Mineure. Im April 1962 begräbt eine Lawine die Baracken der italienischen Arbeiter im Aostatal. Insgesamt fordert die Errichtung des Jahrhundertbauwerks mindestens zwei Dutzend Menschenleben.
Zigarettenkippe löst Feuerinferno aus
Trotz aller Probleme gelingt den Ingenieuren ein Meisterwerk an Präzision. Als am 14. August 1962 der letzte Meter Fels zwischen italienischer und französischer Seite gesprengt wird, beträgt der Versatz nicht einmal 13 Zentimeter. Überschwänglich feiern die Mineure beider Länder den Durchstich, während Gendarmen und Carabinieri die Nationalflaggen austauschen. Drei Jahre später, im Juli 1965, eröffnen die Staatspräsidenten Charles de Gaulle und Giuseppe Saragat den Mont-Blanc-Tunnel mit einem Festakt.
34 Jahre lang rollen täglich Tausende Autos und Lastwagen durch den einröhrigen, nur sieben Meter breiten Tunnel. Betrieben wird er je zur Hälfte von einer italienischen und einer französischen Gesellschaft. Dass dieses Konzept verhängnisvolle Lücken birgt, erweist sich, als am 24. März 1999 ein belgischer Kühllaster genau in der Tunnelmitte in Brand gerät. Auslöser ist eine glimmende Zigarettenkippe, die das Lüftungsaggregat des Lkw entzündet. Wie später festgestellt wird, hätte der Fahrer das Tunnelende wahrscheinlich noch erreichen können. Doch er lässt seinen Truck stehen und bringt sich in Sicherheit.
Desaströse Sicherheitsmaßnahmen
Für die Insassen der nachfolgenden Autos wird der Tunnel so zur tödlichen Falle. Einen Rettungskorridor oder genügend gesicherte Schutzräume gibt es nicht. Außerdem ist die Absauganlage für Abgase und Rauch viel zu schwach. Schnell entwickeln sich am Unglücksort Temperaturen von bis zu 1.000 Grad, viele Wagen geraten in Brand, giftige Gase breiten sich aus. 39 Menschen sterben in dem Flammeninferno, weil die Feuerwehren wegen unklarer Kompetenzen viel zu spät alarmiert werden. Erst nach 56 Stunden kann der Brand unter Kontrolle gebracht werden. Bei der Untersuchung des Unglücks stellen Experten etliche weitere gravierende Sicherheitsmängel im Tunnel fest.
In ihrem Schlussbericht bezeichnen sie das Krisenmanagement als "desaströs". So waren unter anderem seit 1973, also 26 Jahre lang, keine Katastrophenübungen mehr durchgeführt worden. Es dauert drei Jahre, bis der mautpflichtige Tunnel mit verbesserter Sicherheitstechnik wieder freigegeben werden kann. Personenwagen müssen nun größere Abstände einhalten. Auch Lastwagen dürfen wieder durch die enge Röhre rollen, obwohl Umweltschützer und Anwohner in beiden Tälern der Tunneleinfahrten dagegen protestieren. Allerdings werden die Lkw von nun an in kleinen Kolonnen von einem Sicherungswagen durch den Mont-Blanc-Tunnel geleitet.
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