Geprägt wird der Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Horst-Eberhard Richter durch seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg. Nach Hitlerjugend und Arbeitsdienst kommt er mit 18 Jahren nach Russland an die Front. Zu den Schlüsselszenen seines Lebens gehört dort die Begegnung mit einer russischen Bauernfamilie.
Die sei - abgeschnitten von den Nachrichten - völlig ahnungslos gewesen und habe ihn, den deutschen Soldaten, freundlich empfangen. "Was wir hier machen, ist das nicht einfach bestialisch?! Das sind doch nicht unsere Feinde!", sagt sich Richter damals. "Bis heute sind diese Bilder in mir. Das gehört zu den frühen Erfahrungen, die dann irgendwie in mir weiter gewirkt haben."
Einschneidend ist für Richter auch der Tod seiner Eltern. Sie werden kurz nach Kriegsende in einem Dorf von zwei betrunkenen russischen Soldaten umgebracht. Jahrelang quälen ihn Schuldgefühle. Er hatte ihnen geraten, Berlin zu verlassen. Sie selbst hatten in der Stadt bleiben wollen. Das Thema Gewalt lässt den am 28. April 1923 in Berlin geborenen Richter sein Leben lang nicht mehr los.
Wie das Unbewusste das Handeln prägt
In Berlin studiert Richter Medizin, Philosophie und Psychologie. Nach zwei Doktortiteln beginnt er 1950 seine psychoanalytische Ausbildung. Ab 1959 leitet er zunächst das Berliner Psychoanalytische Institut, bevor er 1962 einen der ersten deutschen Lehrstühle für Psychosomatik an der Universität Gießen übernimmt.
Im Jahr darauf erscheint die bahnbrechende Studie "Eltern, Kinder und Neurose". Entscheidend für die psychische Entwicklung eines Kindes, so Richter, sei die Rolle, die es für die Eltern bei deren Konfliktbewältigung spiele. Innere Konflikte könnten unbewusst auf Kinder übertragen werden und bei diesen Störungen ausbilden. "Ein insgeheim unzufriedener Vater reagiert seinen Frust an den Kindern ab", erklärt Richter. "Das ist der Mechanismus, den wir in kleinsten Gruppen finden, aber auch im Großen der Gesellschaft."
In zahlreichen Büchern wie "Die Gruppe" (1972), "Lernziel Solidarität" (1974), "Der Gotteskomplex" (1979) und "Zur Psychologie des Friedens" (1982) zeigt Richter, wie das Unbewusste das Handeln prägt und unbearbeitete innere Konflikte die politische Kultur vergiften. Das Negative werde auf den anderen projiziert. Ihm werde die Schuld an den Problemen der Gegenwart zugeschoben.
Einmischung in gesellschaftliche Debatten
1981 gehört Richter zu den Mitbegründern der westdeutschen Sektion "Ärzte gegen den Atomkrieg", die vier Jahre später mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wird. Immer wieder mischt der Psychoanalytiker sich in politische Debatten ein, nimmt Stellung zu Themen wie Ozonloch, Golfkrieg, Gentechnologie, Werbung, Wiedervereinigung, Rechtsextremismus und Bankenkrise. Kritik nimmt er in Kauf: "Ein Psychoanalytiker, der allen gefällt, der ist kein guter Analytiker - gerade, wenn er sich auch in gesellschaftliche Probleme einmischt." Ein Psychoanalytiker, der kritisch aufgreife, was verdrängt werde, stoße "auf den Widerstand derjenigen, die sagen: 'Das müssen wir doch endlich hinter uns lassen.'"
Drei Mal lehnt Richter das Bundesverdienstkreuz ab, weil es "schon zu viele alte Nazis" bekommen hätten. Als er sich Ende der 1990er Jahre um die inhaftierte Birgit Hogefeld, einst RAF-Mitglied, kümmert, verteidigt er sein Engagement. Nicht um eine Rechtfertigung von Taten gehe es ihm, sondern um Einfühlung und Verstehen: "Die Chance unserer zivilisatorischen Weiterentwicklung liegt darin, dass wir es erreichen, ständig den Horizont unserer sozialen Sensibilität zu erweitern, unser Mitgefühl zu erweitern." Das sei der kulturelle Fortschritt, auf den hinzuarbeiten sei. Horst-Eberhard Richter stirbt am 19. Dezember 2011 mit 88 Jahren in Gießen.
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Stichtag am 20.12.2016: Vor 45 Jahren: Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" wird gegründet