"Als man die erste Anzeige las, Mr. Blondin wolle auf einem Seile den Niagara überschreiten, hielt man die Sache für einen kolossalen Humbug", schreibt 1859 die Leipziger "Illustrirte Zeitung". Und trotzdem balancierte der französischstämmige Hochseilartist Jean Francois Gravelet alias Charles Blondin gelassen über die lärmend tosenden Fluten der zwischen Kanada und den USA gelegenen Niagarafälle. Von da an kann man nur noch die Meldung, dass sich jemand in einem Holzfass am Niagara in die Tiefe stürzen wolle, für Humbug halten.
Rund 40 Jahre dauert es, bis auch dieser selbstmörderische Plan in die Tat umgesetzt wird. Der "Teufelskerl", der sie vollführt, ist eine nicht mehr ganz junge Frau, an ihrem 63. Geburtstag: die verwitwete und verarmte New Yorker Tanzlehrerin Annie Taylor. Offenbar hat sie nichts mehr zu verlieren.
"Das darf niemals wieder jemand tun"
Es ist der 24. Oktober 1901. Annie Taylor kontrolliert ihr 1,40 Meter hohes und mit einem Amboss beschwertes Eichenfass, auf dem "Königin des Nebels" geschrieben steht. Sie verstopft die Ritzen mit Stoff, dann steigt die korpulente Frau mit einem roten Herzkissen hinein. Mit einer Fahrradpumpe lässt sie sich zusätzliche Atemluft ins Innere pusten. Um 16:05 Uhr wird Taylor in die reißenden Fluten geschubst und stürzt zusammen mit einer der halben Million Liter Wasser pro Sekunde die 50 Meter bis zu den harten Felsen hinunter. 35 Minuten müssen die Zuschauer bangen, dann kommt die erlösende Botschaft: "Das Fass hat die Fälle überstanden und Annie lebt!"
Der Tanz mit dem Tod am Niagara soll der Tanzlehrerin Taylor Aufmerksamkeit, Ruhm – und natürlich Dollars – bringen. Zumindest letzteres bleibt ihr verwehrt. Und von ihrem Ruhm wollen sofort andere profitieren: Gleich zwei Manager versuchen, mit dem Original-Holzfass durchzubrennen. Taylor stirbt 1921 in einem Armenhaus in Lockport, New York. Aber sie löst mit ihrer ebenso sinnlosen wie faszinierenden Aktion in den USA einen kleinen Hype aus – und das, obwohl sie nach ihrem Ausstieg gesagt haben soll: "Das darf niemals wieder jemand tun."
Geld und Liebe
Der erste Mann, der aber genau das wieder tut, ist der Zirkusartist Edward Leach, zehn Jahre später, in einem Fass aus Stahl. Er ist wesentlich hagerer als Taylor und deshalb weniger gut gepolstert. Leach bricht sich beide Kniescheiben und den Kiefer und muss für ein halbes Jahr ins Krankenhaus. So viel Glück haben andere nicht: William Hill etwa stirbt 1951 in seinem aus 14 Reifen samt Fischernetz gefertigten Gummifass.
Der Jüngste der Teufelskerle von den Niagarafällen ist Steve Trotter. 1985 besteigt der 22-Jährige sein Fass, wobei ihn Polstermaterial schützt, das sonst für Atomsprengkörper genutzt wird. Trotter landet erst in der populären "Johnny-Carson-Show", dann im "Time Magazine" – und vor Gericht. Für seine verbotene Wahnsinnstat muss er eine saftige Geldstrafe zahlen. Das hindert ihn aber nicht daran, den Stunt 1995 mit seiner langjährigen Freundin und PR-Managerin Lori Martin nochmals zu wagen.
Ob sich das todesmutige Pärchen wohl von Loriot hat inspirieren lassen? "Dann muss ich jetzt etwas zu Ihnen sagen, was ich nur einmal im Leben zu einer Frau gesagt habe", lässt dieser 1988 in seinem Film "Ödipussi" verlauten. "Ich würde mich mit ihnen in einer Tonne durch die Niagarafälle treiben lassen. Das habe ich bisher nur zu meiner Mutter gesagt."
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