Seinen ersten Müller-Thurgau trinkt Stuart Pigott 1975 als Schüler in der Pfalz. Dass ihm der Wein besser geschmeckt hat als die Nudelsuppe dazu, ist noch das Beste, woran sich der renommierte Weinjournalist später erinnert. Mit der Müller-Thurgau-Rebe beginnt in den Siebzigern der Wein-Boom in Deutschland.
Die Rebsorte gilt bald als plump-süßlicher Massenwein, gut genug für Betriebsfeste, Kegeltouren und ungebetene Gäste, so die gängige Beurteilung. Und das zu Unrecht, weiß Wein-Experte Stuart Pigott heute aus eigener Winzererfahrung: "Die von Hermann Müller-Thurgau entwickelte Rebe hat durchaus ihre Qualitäten."
Robusten Trauben genetisch auf der Spur
Der 1850 im Schweizer Kanton Thurgau geborene Hermann Müller entstammt einer Familie von Bäckern und Winzern. Nach einem Studium der Naturwissenschaften entdeckt der Pflanzenkundler mit Forschergeist seine Vorliebe für den Weinbau. Noch keine 30 Jahre alt, übernimmt Müller die Leitung der Lehranstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau im hessischen Geisenheim. Dort kommt der Professor wohl an seinen Namenszusatz Thurgau.
In deutschen Weinbergen wird damals vor allem Riesling angebaut. Der aber ist sehr witterungsempfindlich; manche Jahrgänge fallen komplett aus. Hermann Müller-Thurgau versucht daher, eine robustere Traube zu züchten – im Weinbau ein absolutes Novum, wie Stuart Pigott erklärt: "Die Suche nach einem neuen genetischen Profil, nach einer Rebe mit ganz anderen Fähigkeiten, war eine völlig neue Idee."
Neuzüchtung durch Fremdbestäubung
Müller-Thurgaus Experiment, den säuerlichen Riesling mit der österreichischen Silvaner-Rebe zu kreuzen, gelingt. Zur Weinlese 1882 präsentiert er seine neue Traube "Riesling mal Silvaner". Seit 1913 heißt sie, gegen den Willen ihres Schöpfers, "Müller-Thurgau" und erhält später den Zweitnamen "Rivaner". Ende der 1990er Jahre aber stellt sich heraus: Dem am 18. Januar 1927 gestorbenen Hermann Müller-Thurgau ist bei seiner Kreuzung ein Irrtum unterlaufen.
Genetische Untersuchungen im Weinanbauzentrum Klosterneuburg beweisen, dass die Rebsorte durch Kreuzung von Riesling und der französischen Traube Madeleine Royale entstanden ist. "Die hat wohl zur selben Zeit im Gewächshaus geblüht", vermutet Ernst Rühl, der heutige Leiter der Geisenheimer Lehranstalt. "Der Pollen ist versehentlich auf der Nabe gelandet und damit war es passiert."
Müller-Thurgau-Qualität deutlich gestiegen
Dem Erfolg der frühreifen Müller-Thurgau-Rebe schadet die Fremdbestäubung nicht - im Gegenteil. Die Neuzüchtung stellt keine großen Ansprüche an Boden und Klima und bringt im Gegensatz zum Riesling einen blumigen Wein mit milder Säure. Zudem beschert sie den Winzern regelmäßig hohe Lese-Erträge. Doch gerade dieser Vorzug wird dem Müller-Thurgau zum Verhängnis.
Die Winzer mendeln jene Reben heraus, die immense Mengen an Trauben tragen, was den Geschmack flach und armselig werden lässt. "Und dann", sagt der Fachjournalist Pigott, "hat man dieses dünne Weinchen mit reichlich Süße aufgepäppelt." Nach Pigotts Beobachtung setzen aber mehr und mehr Winzer wieder auf Klasse statt Masse; die Qualität des zum Billig-Fusel degradierten Weins sei deutlich gestiegen. Wohl ganz im Sinne des Pflanzenforschers Hermann Müller-Thurgau, dem wir auch nichtgärenden Apfelsaft verdanken.
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 18. Januar 2017 ebenfalls an Hermann Müller-Thurgau. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
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