Nur jeder vierte der knapp 400.000 Besucher im Januar 2016 ist vom Fach. Die weitaus meisten Gäste der "Internationalen Grünen Woche Berlin" zahlen, um auf Hamstertour durch die prall gefüllten Ausstellungshallen zu schlemmen. "Fressmesse" nennt der Berliner deshalb treffend die seit nunmehr 90 Jahren stattfindende Grüne Woche. Das Publikum der Anfangsjahre dagegen stammt noch geschlossen aus der Land- und Forstwirtschaft, grüne Lodenmäntel bestimmen das Bild. So kommt die Grüne Woche zu ihrem Namen.
Als die "Große Landwirtschaftliche Woche" am 20. Februar 1926 ihre Tore öffnet, haben viele Deutsche Hunger. Die Großstadtbevölkerung wird im Radio aufgerufen, "jedes brachliegende Land zu bebauen. Nur wenn sich jeder bemüht, kann der Hunger gebannt werden." Entsprechend frugal sieht das Messeangebot aus. Kartoffelsorten, Kohl und anderes Grobgemüse sind die Glanzlichter der ersten Bauern-Schau, weiß der Kulturhistoriker Gunther Hirschfelder: "Das Fleisch ist oft geselcht, gepökelt oder eingemacht." Von Frischfleisch jeden Tag träumen die Menschen damals noch.
Frau Antje lächelt für Holland
Von den Nationalsozialisten als Propagandaschau inszeniert, findet die Berliner Agrarmesse bis 1939 regelmäßig statt. Als die erste Nachkriegs-Ausstellung 1948 öffnet, ist Schmalhans wieder Küchenmeister. Vor allem Kleingärtner präsentieren stolz ihre Erzeugnisse. Die größte Sensation: ein 40 Kilogramm schwerer Kürbis, noch ganz ohne Chemie gediehen. Anfang der 60er Jahre tauchen bei der Grünen Woche die ersten Fertiggerichte auf. Die Tiefkühltruhe macht's möglich. Damit, so urteilen Verbraucher- und Umweltschützer heute, beginnt der Wandel von der bäuerlich geprägten Landwirtschaft zur auf Masse getrimmten Agrar-Industrie.
Auf der nun "Internationalen Grünen Woche" beginnt auch die große Karriere eines Blondschopfs im Meisje-Kostüm. Als beliebtestes Werbesymbol der Sechziger macht "Frau Antje" lächelnd Reklame für Käse, Tulpen und Tomaten aus holländischen Gewächshäusern. Doch in den Folgejahren verderben Lebensmittelskandale den Verbrauchern immer häufiger den Appetit. Ökologen kritisieren die Grüne Woche als schönfärberische Show der Agro-Industrie, während Massentierhaltung, Monokultur, Pharmaprodukte und Chemiedünger die Realität bestimmten. Unter dem Motto "Wir haben es satt" protestieren seit 2013 regelmäßig rund 25.000 Menschen zur Eröffnung der Grünen Woche.
Hinterm schönen Schein der Messestände
Unter den Demonstranten gegen die Messe 2016 ist auch die Fernsehköchin Sarah Wiener. Sie habe es satt, dass sich die Entscheidungsträger bewusst gegen das Wohl der Menschen entscheiden, erklärt die kulinarische Umweltschützerin: "Ich möchte nicht Glyphosat pinkeln und keine Antibiotika zu mir nehmen, weil ich es nicht anders kann, wenn ich Tiere esse". Hubert Weiger, Chef des Bundes für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND), beklagt hinter "dem schönen Schein der Messestände das millionenfache Tierleid, exorbitanten Antibiotikaeinsatz in der Mast und enorme Umweltbelastungen durch die Massentierhaltung."
Drinnen in der weltgrößten Agrarmesse kämmt derweil Hermann Maack seinen 1.200 Kilo schweren Prachtbullen Elton. Seit 35 Jahren ist der Landwirt auf der Grünen Woche dabei. Mit den Öko-Protestlern draußen hat er nicht viel am Hut, nur in einem hätten sie recht: Der Preisdruck der Discounter und Nahrungs-Multis mache den Landwirten das Leben schwer. "Schweinefleisch für drei Euro das Kilo ist unmöglich. Das sind Sachen, die gar nicht gehen." Mikrowelle, Dönerbude und Pizza-Service regeln immer häufiger die Nahrungsversorgung. Deshalb bewertet der Kulturhistoriker Gunther Hirschfelder nicht das, was wir essen, sondern wie, als größeres Problem für unser leibliches Wohl. Im Rückspiegel der Geschichte jedenfalls sei "unser Essen gesünder als in allen anderen Epochen der Menschheit."
Stand: 20.02.2016
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