Der erste Handelstag auf dem Frankfurter Parkett verläuft eher langweilig. Gerade einmal zwei Aktien sind am 10. März 1997 am "Neuen Markt" notiert: der Mobilfunk-Dienstleister Mobilcom und das Automobil-Ingenieursbüro Bertrandt. Von den jungen, innovativen Unternehmen der Technologiebranche, die über das neue Börsensegment ihr Wachstum finanzieren sollen, ist zunächst wenig zu sehen.
Vorbild ist die US-Technologiebörse Nasdaq, wo sich einst Microsoft, Apple und Intel Kapital besorgt und den Aktionären enorme Renditen beschert haben. Das soll nun auch am "Neuen Markt" geschehen, damit Deutschland in den vermeintlich zukunftsträchtigen Branchen wie Internet, IT, Biotechnologie und Umwelttechnik nicht den internationalen Anschluss verliert.
Internetfantasie beflügelt Kurse
Im Laufe des ersten Jahres betreten weitere 15 Unternehmen das Parkett. Der "Neue Markt" kommt langsam in Schwung, denn die Aktienkurse klettern im Sog des weltweiten Internethypes. Das lockt immer mehr Gesellschaften an, nicht alle sind schon börsenreif. "Die Qualität hat mit zunehmender Dauer des Neuen Marktes tendenziell abgenommen und die Zahl der Luftnummern zugenommen", erinnert sich der Düsseldorfer Aktienanalyst Alexander Langhorst.
Das stört Finanzhäuser und ihre Anlageberater nicht. Sie verdienen an jeder neuen Notierung kräftig mit: Depotgebühren, Honorare für Gutachten, Verkaufsprovisionen. Absatzschwierigkeiten kennen die Banken nicht: Zur Jahrtausendwende ist das Land der Aktienmuffel und risikoscheuen Investoren im Börsenrausch. "Reich durch Aktien", titeln Boulevardblätter.
Aus Spargroschen wird Risikokapital
Das Geld wandert von Sparbüchern direkt in den "Neuen Markt", ungeachtet, dass dieses Segment zur Beschaffung von Wagniskapital gedacht ist. Das Risiko schalten die meisten Berater und Anleger aus - oder sind sich dessen wegen fehlender Börsenkenntnisse nicht bewusst.
"Niemand hat interessiert, ob die Gesellschaften überhaupt einen Cent verdienen, weil so viel Geld im System war", erinnert sich Marc Tüngler von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz in Düsseldorf. Kritische Stimmen wie von André Kostolany werden überhört. Der Börsenguru warnt: "Zum 'Neuen Markt' darf man nicht gehen. Das ist ein Betrug mit gezinkten Karten und Falschspielern."
Anleger lernen Penny-Stocks kennen
Er soll Recht behalten. Im März 2000 erreicht der Börsen-Index für den "Neuen Markt" seinen Höchststand von 8.600 Punkten. Von da an geht es erst langsam, dann rapide bergab – mit den Kursen und mit der Stimmung. Die ersten Betrugsfälle und Bilanzfälschungen kommen ans Licht. Umsatzprognosen lösen sich in Luft auf, Vorstände melden Insolvenz an oder wandern ins Gefängnis.
Anleger, die nicht rechtzeitig aussteigen, müssen einen neuen Begriff lernen: Penny Stocks. Das sind Aktien, die nur noch im Cent Bereich notieren. Die deutsche Börseneuphorie ist verflogen und mit ihr auch so manches Sparguthaben. Der "Neue Markt" wird 2003 aufgelöst.
Nach 14 Jahren neues Wachstumssegment
Als die Deutsche Börse am 1. März 2017 mit "Scale" wieder ein neues Segment für Wachstumsunternehmen startet, vermeidet sie jeden Vergleich mit dem "Neuen Markt". Zu tief sitzen noch immer die Wunden aus dem rasanten Absturz. "Das vergisst niemand. Und insofern haben wir - was die Aktienkultur betrifft - diese Anleger wahrscheinlich für immer verloren", bedauert Aktionärsschützer Tüngler.
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.
"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 10. März 2017 ebenfalls an den "Neuen Markt". Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
Stichtag am 11.03.2017: Vor 90 Jahren: Schauspieler Joachim Fuchsberger wird geboren