An diesem Morgen liegt eine seltsame, ungewohnte Stille über den Tälern am Nyos-See. Es ist Markttag und eigentlich müsste in den Dörfern bereits geschäftiges Treiben herrschen. Doch an diesem 22. August 1986 wachen nur wenige Menschen in ihren Hütten auf. Sie fühlen sich schwach, haben Schmerzen – und machen eine grauenhafte Entdeckung: Alles Leben um sie herum ist ausgelöscht, überall liegen tote Menschen und Tiere.
Über Nacht hat sich die vulkanische Seelandschaft im Westen Kameruns in ein Leichenfeld verwandelt. Nichts deutet auf die Ursache des Massensterbens hin, Lehmhütten und Bäume sind unbeschädigt. Alles rund um den Nyos-See wirkt normal - bis auf die vielen Leichen und die überall herumliegenden Tierkadaver. Als wäre eine Neutronenbombe eingeschlagen, schildert ein Augenzeuge das Todesareal.
Der Tod aus der Tiefe
Fast 1.800 Menschen sind der unheimlichen Katastrophe zum Opfer gefallen. Wissenschaftler aus mehreren Ländern fliegen sofort nach Kamerun, um das Rätsel aufzuklären. Erste Hinweise erhalten sie von den wenigen Überlebenden wie Ephraim Che. In der Unglücksnacht habe er ein seltsames Geräusch gehört, wie von einer Maschine. Er habe zum See hinunter geschaut und über dem Wasser eine Wolke aus Schaum gesehen, sagt Che. "Dann ging ich zu meinem Haus, da lag einer meiner Brüder, er hatte noch das Essen in der Hand. Meine Mutter sah aus, als würde sie schlafen. Da habe ich angefangen zu schreien. Und als ich den Stall aufgemacht habe, waren auch alle meine Ziegen tot."
Einen Terroranschlag, wie manche Einheimische und Politiker vermuten, hält Klaus Tietze für ausgeschlossen. Der deutsche Geophysiker vermutet, dass dem Nyos-See eine tödliche Gaswolke entstiegen ist. Systematisch sucht Tietze mit einem Expertenteam in dem Vulkangewässer nach Hinweisen. Als er Proben aus dem etwa 200 Meter tiefen See holt, sprudelt Gas daraus hervor. Es ist fast zu hundert Prozent Kohlendioxid, geruchlos, farblos und in so hoher Konzentration absolut tödlich. Außerdem ist es schwerer als Luft. Eine solche Gaswolke steigt also nicht auf, sondern breitet sich wie ein Leichentuch über dem Boden aus. Nach dieser Entdeckung können Tietze und seine Kollegen den Ablauf der Katastrophe rekonstruieren.
Leben mit der unsichtbaren Gefahr
Aus dem Erdmantel gelangt von unten ständig Kohlendioxid in den Nyos-See. In den kalten Wasserschichten am Grund wird es unter hohem Druck gebunden - bis das Wasser kein Kohlendioxid mehr aufnehmen kann. Schließlich genügt eine kleine Erschütterung, etwa durch einen Erdrutsch, und die Katastrophe bricht aus. Wie Sekt aus einer geschüttelten Flasche schießt eine gewaltige Fontäne aus Kohlendioxid und Wasser an die Oberfläche. Dort breitet sich das Gas großflächig in den umliegenden Talsenken aus. Noch in 23 Kilometern Entfernung sind Mensch und Tier am 22. August 1986 zum Ersticken verurteilt.
Das Rätsel um den Gasausbruch vor 30 Jahren ist gelöst, doch Entwarnung gibt es nicht: Der Nyos-See bleibt noch lange eine unberechenbare Zeitbombe. Erst nach zwei Jahrzehnten dürfen die rund 3.000 Überlebenden der Katastrophe zurück in ihre fruchtbare Heimat. Seit 2001 leiten französische Forscher das Kohlendioxid über Rohre gezielt aus dem See ab, um einen neuerlichen Ausbruch zu verhindern. Doch inzwischen leben die Einheimischen mit einer neuen Gefahr, denn der natürliche Damm am Auslauf des Sees ist nicht mehr stabil. Derzeit wird er mit Geldern der Europäischen Union befestigt.
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 22. August 2016 ebenfalls an die Naturkatastrophe in Kamerun. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
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