Ob als Lektor, Verlagsleiter, Literaturkritiker, Schriftsteller oder Tagebuchautor: Fritz J. Raddatz polarisiert gern. Seine 2003 veröffentlichte Autobiografie nennt er "Unruhestifter". Er ist ein Lebemann mit Schwächen für schnelle Autos, Maßanzüge und schöne Menschen - beiderlei Geschlechts. Als Marx-Kenner und Rolls-Royce-Fahrer ist er den einen zu links und den anderen zu rechts. Vielen ist er zu eitel und zu selbstverliebt. Raddatz pflegt mit getönter Brille und sorgfältig gestutztem Bart sein Image als Dandy. Um seinen zweiten Vornamen Joachim macht er ein Geheimnis und belässt es deshalb bei der Abkürzung J.: "Wenn ich wollte, dann würde ich es ja ausschreiben."
Raddatz' Leben ist voller Extreme. Geboren wird er am 3. September 1931 in Berlin als Sohn eines Oberst a.D. und UFA-Direktors. Die Mutter stirbt bei der Geburt. Materiell fehlt es Fritz Joachim an nichts, an Liebe und Zuwendung umso mehr. "Meine Kindheit war schauerlich", notiert er in seinen Erinnerungen. Der sadistische Vater habe ihn "mehr abgerichtet als erzogen". So drohen bei geringsten Vergehen Prügel mit einer "geflochtenen Hundepeitsche". Außerdem wird Fritz Joachim sexuell missbraucht: "Einen elfjährigen Jungen dazu zu zwingen, mit seiner Stiefmutter, also der zweiten Frau meines Vaters, zu schlafen. Im Beisein und unter Anleitung des Vaters, das ist schon - ich nenne es einen seelischen Kindermord."
Programmleiter bei Rowohlt, Feuilletonchef der "Zeit"
Nach dem Tod des Vaters 1946 an Tuberkulose erhält Fritz Joachim einen protestantischen Pfarrer als Vormund. Der Marxist, der aus dem kirchlichen Widerstand kam, prägt die intellektuelle Entwicklung des Jungen. Gleichzeitig ist der Pfarrer der erste Mensch, von dem sich Raddatz geliebt fühlt: "Das war eine sehr frühe, große Liebe, eine homosexuelle Beziehung zu einer Zeit, zu der ich noch gar nicht wusste, dass es so was gab."
17 Jahre dauert die Verbindung. Mit dem Pfarrer zieht Raddatz 1950 von West- nach Ostberlin, studiert an der Humboldt-Universität Germanistik, Geschichte, Theaterwissenschaften, Kunstgeschichte und Amerikanistik. Er fängt als Lektor beim DDR-Verlag "Volk und Welt" an.
"Ich dachte damals: Hier im Osten wird der redliche Versuch gemacht, wirklich mit faschistischen Altlasten aufzuräumen", erinnert sich Raddatz. Doch nach ein paar Jahren gibt es Streit: Die Tucholsky-Ausgabe darf nur zensiert erscheinen, Verhaftung droht. Nachdem die Stasi zwei Mal bei Raddatz vorstellig wird, verlässt er 1958 die DDR. In München arbeitet er zunächst für den Kindler-Verlag in München, 1960 geht er zum Rowohlt-Verlag in Reinbek bei Hamburg. Dort steigt er von Lektor zum erfolgreichen Programmchef und stellvertretenden Verlagsleiter auf.
Erfundenes Goethe-Zitat
Doch als er die Geschäfte zu selbstherrlich führt, wird er entlassen. 1977 wird er Feuilletonchef der "Zeit" und bekannt mit Essays, Literaturkritiken und großen Interviews. Nach acht Jahren endet auch diese Ära mit einem Eklat. Raddatz wird 1985 entlassen, weil er im Leitartikel zur Frankfurter Buchmesse eine angebliche Goethe-Beschreibung des früheren Messegeländes zitiert: "Man begann damals, das Gebiet hinter dem Bahnhof zu verändern." Eisenbahnen waren jedoch zu Lebzeiten Goethes nicht in Betrieb.
Austeilen und Selbstzweifel
Nach dem "beruflichen Herzinfarkt", wie Raddatz seinen Abgang als Feuilletonchef nennt, beginnt er, ab 1982 Tagebuch zu schreiben - für ihn "ein gutes Stück Therapie". Andere sehen in den Tagebüchern, die 2010 und 2014 erscheinen, hingegen boshafte Abrechnungen.
Denn Raddatz teilt ordentlich aus: Helmut Schmidt ist für ihn ein "Spießer", Rudolf Augstein ein "lallender Trunkenbold", Wolf Biermann ein "Kleinunterhalter", Gräfin Marion Dönhoff eine "kalte Frau", die nicht schreiben könne. Selbst Freunde seziert Raddatz gnadenlos, sagt der Musik- und Theaterkritiker Joachim Kaiser. Raddatz habe aber nie Intimitäten ausgeplaudert. In den Tagebüchern stehe allenfalls, wer mit wem geschlafen habe und liiert gewesen sei.
Nach seinem Rauswurf bei der "Zeit" darf er weiter als Kulturkorrespondent für die Zeitung schreiben. Er veröffentlicht auch Erzählungen und Bücher über Heinrich Heine, Gottfried Benn und Rainer Maria Rilke. Seinen ersten großen Erfolg hat er mit seiner Autobiografie. Darin geht er auch nicht zimperlich mit sich selbst um: "Es ist schon so, dass ich mich frage: Wer ist denn eigentlich so ein Ich? Wie wird jemand ein Ich, wie kann man überhaupt ein Ich selber beschreiben und definieren?"
Er gibt sich als Menschen voller Selbstzweifel zu erkennen: "Mit seiner Eitelkeit, mit seiner Euphorie, mit seiner Übertreibungslust, mit meinem Bedürfnis, wie ein Tisch gedeckt sein muss, das hat ja auch was Lächerliches und etwas Klägliches von mir." Am 26. Februar 2015 nimmt sich Raddatz 83-jährig in Pfäffikon das Leben. Er wählt den in der Schweiz legalen "assistierten Suizid". Zwei Tage zuvor hat er seinem Verleger Alexander Fest geschrieben: "Ich bin leergelebt. Nur noch eine Hülle. Ich irre durch eine taube, echolose Welt - ortlos. Ein überflüssiger Mensch."
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.
"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 3. September 2016 ebenfalls an Fritz J. Raddatz. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
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