Das erste gemeinsame Projekt der Eurovision Broadcasting Union (EBU) - die Liveübertragung der Krönung von Königin Elisabeth - ist schon passabel gelungen. Der Zusammenschluss von europäischen Rundfunkanstalten hat sich auch bei der Fußballweltmeisterschaft in der Schweiz 1954 gut vernetzt. Im Oktober 1955 suchen die EBU-Mitglieder nun nach Möglichkeiten, um mehr Zuschauer vor die noch wenig vorhandenen Bildschirme zu locken.
Ein gemeinsames Unterhaltungsprogramm soll helfen. Nur wie kann das aussehen? Die entscheidende Idee soll die BBC gehabt haben: ein Wettbewerb unter europäischen Sängern, bei dem sich die Nationen gegenseitig bewerten. "Beim Sport ist ja auch das Geheimnis, dass man am Anfang nicht weiß, wie es endet", erklärt Journalist und ESC-Experte Jan Feddersen den Grundgedanken. Um 21 Uhr am 24. Mai 1956 hebt sich der Vorhang zum ersten Grand Prix d'Eurovision de la Chanson im schweizerischen Tessin.
Schweizer Heimsieg
Das Regelwerk sieht vor, dass alle sieben teilnehmenden Länder zwei Lieder präsentieren. Nacheinander tragen die Interpreten steif ihre maximal dreieinhalb Minuten langen Lieder in der Landessprache vor. Tanzschritte sind noch verpönt. Die Europäer wollen sich auch gegen die ihrer Meinung nach oberflächliche amerikanische Unterhaltungskultur absetzen. Für Deutschland ist Freddy Quinn drei Tage im VW-Käfer in die Schweiz gefahren. "Am Sonntag mit Jimmy, am Montag mit Jack, am Dienstag da gehst Du mit Johnny weg", besingt der junge Künstler eine lebensfrohe Dame - mit mäßigem Erfolg.
Dagegen landet der zweite Deutsche Walter-Andreas Schwarz mit dem traurigen, existenzialistisch gefärbten Song "Im Wartesaal zum großen Glück" auf den zweiten Platz. Direkt hinter der Siegerin Lys Assia aus der Schweiz, die zu diesem Zeitpunkt schon ein bekannter Schlagerstar ist. Dennoch bekommen von der biederen Schwarz-Weiß-Sendung nur wenige Europäer etwas mit, in kaum einem Wohnzimmer steht ein Fernsehgerät. Und die schreibende Presse ignoriert die Veranstaltung zunächst weitestgehend. Man will der flimmernden Konkurrenz nicht noch dienlich sein.
Über Europas Grenzen hinweg
Doch der Sangeswettbewerb etabliert sich - zunächst mit getragenen Melodien und schweren Texten. Erst in den 1960er Jahren verändert sich der Grand Prix weg vom Chanson hin zum Pop. Frisch und frech kommen nun hübsche, blonde Mädchen in Miniröcken, smarte Sänger zeigen ihre trainierten Körper. Ohrwürmer entstehen und Weltkarrieren beginnen: Udo Jürgens gewinnt mit "Merci Chérie" und Abba mit "Waterloo". Und es wird immer bunter, schriller. Songs werden nicht nur gesungen, sondern auf der Bühne mit Windmaschinen, Pyrotechnik und Lichtspektakel inszeniert.
Bis Nicole 1982 im biederen Kleid mit Spitzenkragen und nur mit ihrer Gitarre in der Hand "Ein bisschen Frieden" singt. Die 17-Jährige beschert Deutschland den ersten Sieg, Lena Meyer-Landrut folgt 28 Jahre später mit "Satellite". Da ist aus dem Grand Prix d'Eurovision de la Chanson längst der Eurovision Song Contest (ESC) geworden - mit Millionen von Zuschauern. Mehr als 40 Nationen nehmen mittlerweile teil, nicht nur aus Europa. Australien geht nun an den Start, China überträgt den ESC. Aus dem Tessiner Kursaal-Debüt ist in 60 Jahren ein weltweites Musikspektakel geworden.
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.
"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.05 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 24. Mai 2016 ebenfalls an den ersten Grand Prix d'Eurovision de la Chanson. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.