Keine andere Metropole Europas wächst Anfang des 20. Jahrhunderts so rasant wie Berlin. 1904 leben zwei Millionen Menschen in der Reichshauptstadt; über 150.000 sind mittags pro Stunde am Potsdamer Platz unterwegs. Und alle haben es eilig. "Spree-Athen ist tot, Spree-Chicago wächst heran", meint der Industrielle und spätere Außenminister Walter Rathenau.
"Tempo, Tempo" lautet die Devise auch im Zeitungsgeschäft. Hunderte Blätter informieren in Berlin täglich, doch alle erscheinen morgens oder abends. Die Gebrüder Ullstein, Verleger der "Morgenpost" und der "Berliner Zeitung" (B.Z.), erkennen die Marktlücke. Sie stellen die Frühausgabe der "B.Z." ein und erfinden die "B.Z. am Mittag".
Die Börse gibt den Takt vor
Am 22. Oktober 1904 gegen 12.30 Uhr rufen Zeitungsboten im Verkehrsgewühl Berlins die Schlagzeile der ersten deutschen Zeitung im Straßenverkauf aus: "Sturm auf Port Arthur. Russische Offensive an der Mandarinenstraße". Kurz und prägnant erfährt der eilige Leser für fünf Pfennig das Aktuellste aus Politik und Sport, Theaterkritiken und Prozessberichte.
Taktgeber der "B.Z. am Mittag" ist die Börse: Um 12.10 Uhr erfolgt im Börsensaal die Notierung der Öffnungskurse. Zwei Minuten später werden sie telefonisch der Redaktion gemeldet und gelangen sofort zum Setzen; dann starten die Rotationsmaschinen. Bereits um 12.18 Uhr liefert ein riesiger Tross von Lastautos und Fahrrädern die ersten Zeitungen aus.
Berühmte Balkenschlagzeile der modernen Boulevardpresse
Mit der Geschwindigkeit wachsen die Schlagzeilen. "Der Straßenkäufer ist ein sehr flüchtiger", sagt der Zeitungsforscher Horst Roeper. Er wolle sofort erkennen: Was ist denn heute wohl das Wichtigste? "So entstehen die Balkenüberschriften und riesigen Lettern der Boulevardblätter."
Wegen Papiermangels eingestellt
Zuweilen ist die "schnellste Zeitung der Welt" schneller als erwünscht. So versucht die Reichskanzlei am 9. November 1918, den Andruck der Schlagzeile "Der Kaiser hat abgedankt" zu stoppen, da man ein Chaos befürchtet.
Zwei Monate später will Reichspräsident Friedrich Ebert in Weimar die Nationalversammlung eröffnen. Seine vorbereitete Rede kann der verblüffte Ebert bereits auf der Reise dorthin in der "B.Z. am Mittag" lesen.
Zu Spitzenzeiten verkauft Ullstein täglich 200.000 Exemplare der "B.Z. am Mittag". Von den Nazis gleichgeschaltet wird das Boulevardblatt 1943 während des Krieges aufgrund von Papiermangel eingestellt. 1953 startet Axel Springer mit der noch heute existierenden "B.Z." eine Neuauflage.
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Stichtag am 23.10.2019: Vor 65 Jahren: Unterzeichnung der Pariser Verträge