Mitten in der Erfurter Innenstadt steht ein schwarzer, 2,80 Meter hoher Obelisk. Das Mahnmal erinnert an die "vergessenen Pogrome von Erfurt", die sich hier im August 1975 ereignet haben. Es sind die ersten rassistischen Ausschreitungen auf deutschem Boden seit dem Ende der Nazi-Herrschaft.
In Erfurter Betrieben arbeiten damals einige hundert Algerier. Die sogenannten Vertragsarbeiter leben in streng überwachten Wohnheimen. Seit Monaten schon wird die Stadt von immer neuen Gerüchten über angeblich von Algeriern begangenen Vergewaltigungen und Morden in Unruhe versetzt. Kein einziger Vorwurf bewahrheitet sich.
Rechter Mob jagt Algerier
Bei einem Stadtfest am 10. August 1975 entladen sich die fremdenfeindlichen Aggressionen, als offensichtlich rechtsradikale Jugendliche zwei Algerier verprügeln. Kurz darauf jagen Hunderte junge Männer fliehende Algerier durch die Innenstadt und schlagen mit Eisenstangen und Latten auf sie ein.
Am folgenden Tag haben die Sicherheitskräfte die Lage zunächst im Griff. Zur Gegenwehr bereite Algerier werden im Wohnheim ruhiggestellt. Die DDR-Medien verschweigen die brutalen Ausschreitungen, denn Fremdenhass und Nazismus kann und darf es im sozialistischen Musterstaat nicht geben.
Volkspolizei schlägt zurück
Als am 12. August etwa 60 Jugendliche in der Innenstadt erneut Jagd auf Algerier machen, werden diese unter Polizeischutz zu ihrem Wohnheim eskortiert. Dort wächst die Gruppe der Randalierer auf 150 Personen an; es fliegen Steine, Scheiben gehen zu Bruch.
"Provokatorisch wird die Herausgabe der Algerier verlangt, die man laut Zwischenrufen und Sprechchören 'totschlagen bzw. hängen' will", meldet die Stasi. Als der Mob versucht, das Wohnheim zu stürmen, beendet die Volkspolizei die Ausschreitungen mit hartem Knüppeleinsatz.
39 weitere Krawalle in der DDR
Auch an den beiden folgenden Tagen schreitet die Polizei mit einem Großaufgebot gegen Zusammenrottungen gewaltbereiter Rassisten ein. Am Ende befinden sich offiziellen Angaben zufolge 31 Personen in Haft, gegen neun weitere werden Ordnungsstrafverfahren eingeleitet.
Die Angeklagten, durchweg junge Männer mit problematischen Biografien, werden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Das Wort Rassismus fällt im Prozess nicht einmal. Bis zum Ende der DDR kommt es zu 39 weiteren ausländerfeindlichen Krawallen – totgeschwiegen wie die in Erfurt.
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 10. August 2020 ebenfalls an die Ausschreitungen in der DDR. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
Stichtag am 11.08.2020: Vor 15 Jahren: Premiere des Films "Charlie und die Schokoladenfabrik"