Es ist ein sonniger Samstagmorgen, als Henriette Reker kurz vor neun auf dem Wochenmarkt in Köln eintrifft. Sie ist die Sozialdezernentin der Stadt und damit für die Unterbringung von Geflüchteten zuständig. An diesem Tag aber ist sie im Wahlkampf-Endspurt.
Bei den Kommunalwahlen am nächsten Tag bewirbt sich die parteilose Politikerin um das Amt der Kölner Oberbürgermeisterin. Gemeinsam mit Unterstützern von CDU, Grünen und FDP kämpft Henriette Reker am 17. Oktober 2015 im Stadtteil Braunsfeld noch einmal um Wählerstimmen.
Selbsthilfe in höchster Not
Die 63-Jährige verteilt gerade Rosen an ihrem Stand, die Stimmung rundherum ist entspannt, als sich ihr unauffällig ein Mann nähert. Er fragt, ob sie ihm auch eine Rose gebe. Nur einen Augenblick später zieht der Mann ein großes Jagdmesser hervor und stößt es Henriette Reker in den Hals.
Obwohl die lange Klinge tief in ihre Luftröhre eindringt, bleibt Reker bei Bewusstsein. "Mein Glück", sagt sie später. Durch eine frühere Tätigkeit bei einer Berufsgenossenschaft kenne sie sich mit Stichverletzungen aus. "So konnte ich mich selbst in eine stabile Seitenlage bringen und die Blutung kompressieren."
Spontane Solidarität
Der Attentäter zückt nun ein Klappmesser und verletzt damit vier weitere Personen, am schwersten eine CDU-Politikerin durch einen Stich in den Bauch. Dann wird er von einem zufällig anwesenden Bundespolizisten überwältigt. "Ich wollte sie töten", ruft der Täter nach seiner Festnahme.
Mit einer mehrstündigen Notoperation können die Ärzte in der Uniklinik Rekers Leben retten. Im Laufe des Tages kommen in der Innenstadt hunderte Menschen zusammen. Gemeinsam mit Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) bilden sie eine Menschenkette, um ihre Solidarität mit Reker zu zeigen und ein Zeichen gegen Gewalt zu setzen.
Rechtsradikaler Täter voll schuldfähig
Oberbürgermeisterin Reker drei Monate nach dem Attentat
Am nächsten Tag wird Henriette Reker zur Kölner Oberbürgermeisterin gewählt. Noch in der Klinik nimmt sie das Amt offiziell an: "Für mich war das selbstverständlich, dass ich an der Stelle weitermache." Der Attentäter, ein mehrfach vorbestrafter Arbeitsloser aus Köln-Nippes, ist seit mindestens 15 Jahren in der rechtsradikalen Szene aktiv.
Im Prozess gegen den 44-Jährigen geht die Staatsanwaltschaft von einem "eindeutig fremdenfeindlichen Hintergrund" aus. Mit seiner Tat habe der Angeklagte ein Zeichen gegen die Aufnahme von immer mehr Flüchtlingen setzen wollen. Als voll schuldfähig eingestuft, wird er wegen versuchten Mordes zu 14 Jahren Haft verurteilt.
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