Es ist eisig kalt an der englischen Nordwestküste. Doch Elizabeth II. trotzt dem stürmischen Wind und nimmt sich eine Stunde Zeit, um das neue Kraftwerk persönlich zu inspizieren. Interessiert lässt sich die 30-jährige Queen erläutern, wie die Reaktoren von Calder Hall ihr Königreich gefahrlos in die Ära des Atomstroms führen. Pünktlich um zwölf Uhr nimmt Elizabeth II. auf einer kleinen überdachten Tribüne vor einem Schaltbrett Platz.
Geschichte werde geschrieben an diesem 17. Oktober 1956, erklärt sie unter dem Applaus zahlreicher Ehrengäste aus aller Welt: "Mit Stolz eröffnen Wir Calder Hall, Englands erstes Atomkraftwerk, das uns alle benötigte Elektrizität liefert, ohne Kohle oder Öl dafür nutzen zu müssen." Dann zieht die Königin an einem kleinen Hebel vor ihr. Sofort schnellt auf einer zwei Meter hohen Messscheibe mit Kilowatt-Skala der Zeiger in die Höhe: Calder Hall, das erste kommerziell betriebene Atomkraftwerk der Welt, ist am Netz.
Träume vom Kernreaktor im Eigenheim
Die Reaktorblöcke von Calder Hall leisten zusammen 800 Megawatt. Anfangs produzieren sie jedoch nicht vorrangig Strom, sondern Plutonium für die britische Atomstreitmacht. Welche Gefahren die neue, "saubere" Energie birgt, zeigt sich nur ein Jahr später in direkter Nachbarschaft zu Calder Hall. Im Reaktor Windscale wird schon seit 1950 Plutonium zum Atombombenbau gewonnen. Durch einen Brand kommt es im Oktober 1957 zum GAU: Eine stark radioaktive Wolke entweicht und breitet sich über Großbritannien und das europäische Festland aus. Die Katastrophe kostet etwa 100 Menschen das Leben, wird aber, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen, weitgehend vertuscht.
Unter den Ehrengästen in Calder Hall ist auch Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU), ein Verfechter der atomaren Bewaffnung der Bundeswehr. Als Atom-Minister hat Strauß zuvor die Deutsche Atomkommission begründet und vehement die kommerzielle Nutzung der Kernenergie propagiert. Die Deutschen träumen von Strom ohne Ende, Flugzeugen und Autos mit Nuklearantrieb und von Baby-Reaktoren, die jedes Eigenheim rundum versorgen. Auch die SPD öffnet sich der atomaren Zukunft und schreibt 1959 in ihr Godesberger Programm, "dass der Mensch im atomaren Zeitalter sein Leben erleichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand für alle schaffen kann, wenn er seine (…) Macht über die Naturkräfte nur für friedliche Zwecke einsetzt."
"Atomkraft? Nein danke" wird Massenbewegung
Als erstes bundesdeutsches Kernkraftwerk speist 1961 das AKW Kahl Strom in das Netz ein. Neben der vorherrschenden Zustimmung zur Atomtechnologie wächst aber auch die Sorge um eine mögliche radioaktive Verseuchung von Böden, Grundwasser und Lebensmitteln. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Franz Meyers (CDU) reist extra zum britischen Reaktor Harwell, um zu erfahren, wie man dort die Ängste der Bevölkerung beschwichtigt. Auch in der Industrie muss die Politik noch für ihren Atomkurs werben; die Energiekonzerne fürchten vor allem die immensen unkalkulierbaren Kosten. Erst als Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) üppige finanzielle Förderungen und Risikobeteiligungen des Staates zusagt, beginnt der flächendeckende Ausbau von Atomkraftwerken.
Die Ölkrise der Siebziger Jahre verschärft zunächst die Angst, ohne Atomstrom würden bald alle Lichter ausgehen. SPD-Kanzler Helmut Schmidt erklärt die Nuklearenergie für "unverzichtbar". Viele Menschen im Umkreis der geplanten Reaktoren sehen das anders und machen gegen den Bau mobil. "Atomkraft? Nein danke!" wird zum Slogan einer bundesweiten Bewegung. Doch der Staat im Schulterschluss mit der Atomindustrie bleibt hart: Bei den Großkundgebungen in Wyhl, Brokdorf und Grohnde geht die Polizei in Heeresstärke mit Knüppeln und Wasserwerfern gegen die Demonstrierenden vor. Erst der Super-GAU von Tschernobyl 1986 löst nachhaltig Zweifel an der Beherrschbarkeit der Atomkraft aus. Calder Hall, das erste und dienstälteste AKW der Welt, wird 2003 vom Netz genommen. Ein Störfall dort ist nie bekannt geworden.
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