Soziale Ungleichheit ist in der jungen Bundesrepublik lange ein Tabu. "Das Thema Armut war ein gesellschaftliches Streitthema ersten Ranges", sagt Christoph Butterwegge, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Köln. "Man wollte nicht damit identifiziert werden, dass es Armut auch in dieser reichen Bundesrepublik gab und es widersprach auch dem Selbstbildnis der BRD damals." Mit dem Ende des sogenannten Wirtschaftswunders, dem Beginn der Ölkrise und den ständig steigenden Arbeitslosenzahlen bekommt das Bild der sozial einheitlichen westdeutschen Gesellschaft jedoch Risse.
Kirchen, Wohlfahrtsverbände und Kommunen verzeichnen längst eine steigende Armut und fordern die Bundesregierung zum Handeln auf. 1984 wird die DGB-Studie "Die neue Armut" vorgestellt. Darin geht es um die Folgen der Massenarbeitslosigkeit. 1989 legt der Paritätische Wohlfahrtsverband einen ersten gesamtdeutschen Armutsbericht vor - mit dem Titel: "Wessen wir uns schämen müssen in einem reichen Land". Fünf Jahre später geben die beiden Organisationen zusammen einen zweiten Bericht unter dem Titel "Armut in Deutschland" heraus, der auch als Taschenbuch erscheint. Doch die Bundesregierung hält sich weiterhin zurück.
Riester: "Ungleichheit hat zugenommen"
1995 sagt der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) schließlich auf dem ersten Weltsozialgipfel der Vereinten Nationen zu, ebenfalls eine Bestandsaufnahme vorzunehmen. Jahre vergehen, ohne dass das Vorhaben von der schwarz-gelben Regierung umgesetzt wird. Am 25. April 2001 ist es soweit: Die rot-grüne Regierung, die 1998 ins Amt gekommen ist, löst eine Koalitionsvereinbarung ein und veröffentlicht unter dem Titel "Lebenslagen in Deutschland" den ersten Armuts- und Reichtumsbericht einer Bundesregierung. "In fast allen Lebenslagen hat bis 1998 die Ungleichheit in Deutschland zugenommen", sagt Bundessozialminister Walter Riester (SPD) bei der Vorstellung des Berichts.
"Es war sicherlich ein historischer Markstein, dass eine Bundesregierung überhaupt anerkannte, dass es Armut in Deutschland gibt", sagt Politikwissenschaftler Butterwegge. "Aber die zahlreichen Lücken, methodischen Mängel und auch groben Fehlinterpretationen, die im Bericht enthalten sind, zeigen doch deutlich, dass das Ganze halbherzig betrieben wurde."
Selbstlob und geglättetes Vorwort
Medien kritisieren nach der Veröffentlichung des Berichts das darin enthaltene Eigenlob der rot-grünen Koalition, das angeblich auf Weisung des Umfeldes von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) eingefügt worden ist. "Auch Glättungen im Vorwort mussten vorgenommen werden, weil die ursprüngliche Fassung aus Riesters Ministerium im Kanzleramt nicht auf ungeteilte Begeisterung stieß", schreibt damals der Berliner "Tagesspiegel".
"Armuts- und Reichtumsberichte sind meistens so von ihrer Datenlage terminiert, dass sie gerade die eigene Regierung nicht mehr umfassen, sondern die Regierungszeit der Vorgängerregierung kritisch beleuchten", sagt Professor Butterwegge. Insofern seien die offiziellen Armuts- und Reichtumsberichte auch immer beschönigend - "beschönigend im Bezug darauf, was man selbst beigetragen hat dazu, dass Armut und Reichtum in unserer Gesellschaft zunehmen."
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.05 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 25. April 2016 ebenfalls an den ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.