"In unserem Volk gibt es einen Aberglauben: Man soll nicht aussprechen, wovor man Angst hat", sagt die russische Journalistin Anna Politkowskaja. Denn gerade dadurch könne das Unheil heraufbeschworen werden. "Deshalb werde ich nie laut sagen, wovor ich am meisten Angst habe." Grund zur Angst hat sie: Seit Jahren berichtet sie über die Gräuel, die ab 1999 im zweiten Tschetschenienkrieg sowohl von russischen Sicherheitskräften als auch von tschetschenischen Einheiten verübt werden. Als Kritikerin des russischen Präsidenten Wladimir Putin macht sie sich nicht nur im Kreml Feinde, sondern auch bei dem von Moskau protegierten Regime in Tschetschenien.
Am 7. Oktober 2006, einem Samstagnachmittag, kommt Anna Politkowskaja vom Supermarkt nach Hause. Sie bringt den ersten Teil der Einkäufe aus dem Auto in ihre Wohnung. Als sie aus dem Fahrstuhl steigt, um die restlichen Tüten zu holen, wird sie niedergeschossen. Der unbekannte Täter lässt seine Waffe neben ihrer Leiche zurück.
Über 50 Reisen nach Tschetschenien
Geboren wird Anna Politkowskaja am 30. August 1958 in New York als Kind von sowjetischen Diplomaten ukrainischer Herkunft. Sie wächst in Moskau auf. Nach ihrem Journalismus-Studium arbeitet sie für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Ab 1994 ist sie für rund fünf Jahre Redakteurin der russischen Wochenzeitung "Obschtschaja Gaseta", damals eines der Vorzeigeblätter unabhängiger Berichterstattung. Im Juni 1999 wechselt Anna Politkowskaja zur oppositionellen Moskauer Zeitung "Nowaja Gaseta" und berichtet als Sonderkorrespondentin in über 500 Artikeln aus dem tschetschenischen Krisengebiet.
"Das Kalkül des Chefredakteurs war denkbar einfach: Gerade ich als zutiefst ziviler Mensch könnte sie viel besser verstehen, die Leiden anderer zutiefst ziviler Menschen, der vom Krieg überrollten Bewohner der tschetschenischen Dörfer und Städte", schreibt die Journalistin in einem ihrer Bücher. Sie schildert nicht nur die Verbrechen der russischen Armee und der mit ihr verbündeten paramilitärischen tschetschenischen Gruppen an der Zivilbevölkerung. Auch von Übergriffen tschetschenischer Rebellen auf russische Soldaten berichtet sie. Ihre Informationen bezieht sie aus Kontakten, die sie auf über 50 Reisen durch die Region knüpft.
Vermittlerin bei Geiselnahme in Moskau
"Tatsächlich musste ich Menschen dazu bewegen, furchtbare Geschichten zu wiederholen", sagte Anna Politkowskaja in einem Interview. "Sie fingen an zu erzählen und weinten. Ich habe in diesem Krieg so viele Tränen gesehen, dass ich selbst nicht mehr weinte." Ihre Erlebnisse verändern sie und wirken sich unter anderem auf den Umgang mit ihren Kollegen aus. "Die Vorgesetzten in der Redaktion hat sie angeschrien. Aber am Telefon mit irgendeinem armen Flüchtling war sie immer so liebenswürdig - ein erstaunlicher Kontrast", sagt Dimitrij Muratow, Chefredakteur der "Nowaja Gaseta".
Als im Oktober 2002 tschetschenische Rebellen das Moskauer Musical "Nordost" überfallen und fast 1.000 Menschen als Geiseln nehmen, verlangen sie, dass Anna Politkowskaja bei den Verhandlungen mit den Sicherheitskräften anwesend ist. Doch die Rechnung der Geiselnehmer geht nicht auf: Die Journalistin versucht, sie zu überreden, die Geiseln freizulassen. "Damit machte sie die bewaffneten Terroristen furchtbar wütend", sagt Chefredakteur Muratow. "Die hatten gedacht, dass sie mit ihnen mitfühlen würde." Erbarmen habe sie aber - wie immer - mit den Opfern gehabt: den Geiseln. Auch auf den Kreml hat Anna Politkowskaja keinen Einfluss: Sie kann die Stürmung des Theaters durch russische Spezialeinheiten mit Kampfgas und damit den Tod von über 100 Menschen nicht verhindern.
Auf Reise nach Beslan vergiftet
2004 gibt es eine weitere Geiselnahme, die mit dem Tschetschenienkrieg in Verbindung steht: In einer Schule im nordossetischen Beslan werden über 1.000 Schüler, Eltern und Lehrer gekidnappt. Anna Politkowskaja will nicht nur darüber berichten, sie hofft auch, die Terroristen zum Aufgeben bewegen zu können. Doch während des Fluges dorthin wird sie Opfer eines Giftanschlags, für den sie den russischen Geheimdienst verantwortlich macht. "Insofern gab es mehrere Warnungen und sie war sich bewusst, dass ihr Leben immer bedroht war", sagt Christian Mihr, Geschäftsführer bei "Reporter ohne Grenzen".
Anna Politkowskaja arbeitet zuletzt an einem Artikel über Folter in Tschetschenien. Bevor er veröffentlicht werden kann, wird die 48-jährige zweifache Mutter ermordet. Von den russischen Behörden werden zwar angebliche Tatverdächtige festgenommen und zum Teil auch verurteilt. "Aber die eigentlichen Drahtzieher, die sind bis heute nicht klar", sagt Journalist und Menschenrechtsaktivist Mihr. Für Gerri Kasparow, den ehemaligen Schachweltmeister und russischen Oppositionellen, ist klar: "Dieser Schuss galt nicht nur Anna Politkowskaja, sondern der gesamten kritischen Berichterstattung, dem Gewissen des Landes."
Programmtipps:
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 7. Oktober 2016 ebenfalls an Anna Politkowskaja. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
Stichtag am 08.10.2016: Vor 75 Jahren: Jesse Jackson wird geboren