"Ja, wer weiß denn überhaupt, was sich im Herzen eines Frischverhafteten abspielt!", schreibt Alexander Solschenizyn. Wie ist es, auf offener Straße abgefangen und verschleppt zu werden? Solschenizyn kann Antworten geben. Denn auch er wird plötzlich verhaftet. Wegen seiner Kritik am sowjetischen Diktator Josef Stalin in einem privaten Brief.
Acht Jahre lang ist Solschenizyn in verschiedenen Lagern in Sibirien inhaftiert: Im "Glawnoje uprawlenije lagerej", kurz: Gulag, dem Netz von Straf- und Arbeitslagern in der Sowjetunion, das der sowjetische Diktator Josef Stalin seit 1929 errichten und perfektionieren ließ. Solschenizyn schreibt darüber. Am 10. Dezember 1970 wird ihm dafür in Stockholm der Literatur-Nobelpreis verliehen. Dabei ist damals sein Hauptwerk "Der Archipel Gulag" (1973) noch gar nicht erschienen.
Eine politische Entscheidung
Die Verleihung an Solschenizyn ist eine politische Entscheidung. Denn es geht nicht zuletzt um die Verurteilung des vielleicht dunkelsten Kapitels der Sowjetunion. Die Verhafteten in den Lagern sterben an Erfrierungen, Unterernährung, Überarbeitung, an Krankheiten und den Folgen von Strafen und Folter. 18 bis 20 Millionen Menschen sollen zwischen dem Ende der 1920er und der Mitte der 1950er Jahre in den Lagern inhaftiert gewesen sein. Vor allem auch Gegner des Regimes. Und solche, die das Regime dazu erklärt hat.
Schon in seinem Debütroman "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" (1962) beschreibt Solschenizyn kleinste Details des Lebens im Straflager, ebenso in "Der erste Kreis der Hölle" (1968), dessen Manuskript aus der Sowjetunion geschmuggelt werden und im Ausland gedruckt werden muss. Da ist Stalin schon 15 Jahre tot, aber die neuen Herren im Kreml wollen nicht, dass öffentlich über die Lager gesprochen wird. Der Literatur-Nobelpreis soll auch dies ändern.
"Ich schreibe für das sprachlose Russland"
Anders wird das aber erst 1973, als in Paris Solschenizyns ebenfalls herausgeschmuggeltes Buch "Archipel Gulag" erscheint: eine Collage aus Zeitzeugenberichten, historischen Quellen und eigenen Erfahrungen. Über zehn Jahre lang hat der Autor im Geheimen an dem 1800-seitigen Werk gearbeitet. "Ich schreibe für das sprachlose Russland", heißt es im Buch, das Stalins System der Verfolgung und Straflager plötzlich weltweit bekannt macht.
Wenige Monate nach dem Erscheinen wird Solschenizyn aus der Sowjetunion ausgebürgert. Erst 1990 erhält er die sowjetische Staatsbürgerschaft zurück. Er stirbt 2008 mit 89 Jahren in Moskau.
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 10. Dezember 2020 ebenfalls an Alexander Solschenizyn. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
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