Sexuell übertragbare Krankheiten sind wohl so alt die Menschheit selbst. Doch lange ist nicht bekannt, wodurch diese Krankheiten verursacht werden. Das ändert sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. "Mit der aufkommenden bakteriologischen Ära wächst der Ehrgeiz, den Erregern der Geschlechtskrankheiten auf die Spur zu kommen", sagt Hans-Georg Hofer, Professor für Geschichte und Theorie der Medizin an der Universität Münster. Einer jener Pioniere der bakteriologischen Erforschung von Geschlechtskrankheiten ist der Mediziner Albert Neisser. Für ihn gehören zu einer erfolgreichen Behandlung nicht nur Fachärzte, sondern auch "vernünftige" Patienten: "Das erste und wichtigste Gebot lautet: Gehe so schnell wie möglich zum Arzt!"
Geboren wird Albert Neisser am 22. Januar 1855 in Schweidnitz in Schlesien. Auch sein Vater ist Arzt. Dass es Sohn Albert ausgerechnet mit Hautausschlägen und eitrigen Genitalien zu Ansehen bringt, ist Zufall. Als er sein Medizinstudium 1877 beendet, bewirbt er sich zunächst bei einem Internisten. Weil der ihn ablehnt, fängt der 22-Jährige als Assistenzarzt an der neu eröffneten Haut-Klinik in Breslau an. Die Dermatologie hat keinen besonders guten Ruf. Zum einen, weil sie sich mit den sexuell übertragbaren Krankheiten beschäftigt, sagt Experte Hofer, "zum anderen, weil sich insbesondere jüdische Ärzte diesem aufkommenden Spezialgebiet gewidmet haben". Der Grund: Juden ist damals der Aufstieg in etablierten Fachrichtungen wie Chirurgie oder Innere Medizin verwehrt. Auch Neisser - obschon mit 14 Jahren konfirmiert - stammt aus einer jüdischen Familie.
Kontroverse um Lepra-Erreger
Neisser stürzt sich in die Forschung und sucht nach der Ursache der Gonorrhö, im Volksmund Tripper genannt. 1879 gelingt es dem jungen Arzt, den Erreger auszumachen. Es ist ein Bakterium, das bis heute seinen Namen trägt: "Neisseria gonorrhoeae". Durch seine Entdeckung wird Neisser weltweit bekannt. Mit 24 Jahren ist er nun einer der anerkanntesten Ärzte für Haut- und Geschlechtskrankheiten. Kurz nach seinem Erfolg fährt er nach Norwegen, wo Lepra aufgetreten war. Neisser besucht den Bakteriologen Gerhard Hansen, der ihm für eigene Experimente Gewebeproben seiner Leprapatienten überlässt. Was folgt, geht als "Hansen-Neisser-Kontroverse" in die Medizingeschichte ein: Zurück in Breslau färbt Neisser das Material nach den neusten Methoden ein. Auf diese Weise kann er den Bazillus anschaulicher darstellen, als es Hansen bisher möglich war. Ohne mit Hansen Rücksprache zu nehmen, veröffentlicht Neisser seine Ergebnisse - und handelt sich den Vorwurf ein, Hansens Entdeckung gestohlen zu haben. Erst knapp 20 Jahre später entscheidet sich der Streit zugunsten des Norwegers, Lepra wird zu "Morbus Hansen".
Die Kontroverse schadet Neisser nicht: 1882 wird er mit 27 Jahren zum außerordentlichen Professor ernannt und übernimmt die Leitung der dermatologischen Klinik in Breslau. 1889 gründet er zusammen mit vier weiteren Medizinern die Deutsche Dermatologische Gesellschaft. Er baut eine neue Hautklinik, die sich zu einem Forschungszentrum mit internationalem Ruf entwickelt. Auch privat läuft alles bestens. Neisser heiratet in eine wohlhabende Industriellenfamilie und gilt als Förderer der Kunst. Für sich und Ehefrau Toni lässt er vom Berliner Architekten Hans Griesebach in Breslau eine Villa bauen, die zu einem kulturellen Zentrum der Jahrhundertwende wird. Zu den Gästen ihres Salons zählen weltberühmte Künstler wie Gustav Mahler, Richard Strauss und Gerhart Hauptmann.
Menschenversuche mit Syphilis
Mit dem Namen Neisser ist allerdings auch einer der ersten großen Skandale in der deutschen Medizingeschichte verbunden: 1892 missbraucht der Arzt Patientinnen für Menschenversuche. Ohne deren Aufklärung und Einwilligung injiziert er jungen Prostituierten und Mädchen das Blutserum von Syphilis-Patienten. Einige von ihnen erkranken. Was unter Ärzten kein Geheimnis ist, schockiert die Öffentlichkeit, als die "Münchener Freie Presse" im Januar 1899 darüber berichtet. Neisser wird zu einer Geldstrafe verurteilt und das preußische Abgeordnetenhaus beschäftigt sich mit dem Fall. Die politische Folge: An Minderjährigen und Nicht-Einwilligungsfähigen dürfen keine medizinischen Experimente mehr vorgenommen werden, an allen anderen Patienten nur nach deren Aufklärung und Zustimmung. Das sei die "weltweit erste staatliche Regelung" für ärztliche Forschung, sagt Professor Hofer, "ein Meilenstein in der Geschichte der Medizinethik".
Neissers Ruf als Wissenschaftler nimmt wiederum keinen Schaden. Er setzt seine Syphilis-Forschung ab 1905 auf der Insel Java an Affen fort. Seine Suche nach einer Schutzimpfung gegen die Geschlechtskrankheit bricht er nach einigen Jahren jedoch erfolglos ab. Alber Neisser stirbt am 30. Juli 1916 in Breslau.
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 30. Juli 2016 ebenfalls an Albert Neisser. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
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