Regisseur Christoph Schlingensief

Stichtag

21. August 2010 - Christoph Schlingensief stirbt in Berlin

Bis zum Schluss lebt er öffentlich. Regisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief ist an Krebs erkrankt. In seinem vorletzten Eintrag im "Schlingenblog" schreibt er am 9. Juli 2010: "Glaubt immer an eine Zukunft und pflegt das Normale! Das Normale ist das Höchste, was uns geschenkt wurde oder von den Eltern beigebracht wurde. Nutzt das! Ich kann es immer noch nicht."

Der am 24. Oktober 1960 in Oberhausen geborene Schlingensief ist schon früh am Außergewöhnlichen interessiert. Sein Vater ist Apotheker, seine Mutter arbeitet als Krankenschwester. Das behütete Einzelkind wächst nach eigenem Bekunden in einem "extrem kleinbürgerlichen Elternhaus" auf. Christophs Vater hält das Familienleben auf Super-8-Filmen fest. Einmal kommt es dabei zu einem folgenreichen, technischen Fehler: Die Bilder werden doppelt belichtet. "Meiner Mutter und mir marschierten am Strand dann irgendwelche Leute über den Bauch", erinnert sich Schlingensief später. "Und dieses Bild hat mich nie wieder losgelassen." Er ist von der Möglichkeit einer Doppelbelichtung so eingenommen, dass er mit acht Jahren um die Kamera bittet.

Immer schräger und experimenteller

Ab diesem Zeitpunkt dreht Schlingensief Filme mit wenig Geld und guten Freunden. Seine Ideen werden immer schräger und experimenteller. Eine Filmhochschule besucht er nie. 1985 läuft "Menu total" bei der Berlinale, Helge Schneider spielt die Hauptrolle. Es geht um Adolf Hitler, Irre und Zombies - ein Skandal. Auch die Wiedervereinigung verarbeitet Schlingensief mit viel Blut und Geschrei in der Trilogie "100 Jahre Adolf Hitler - Die letzten Stunden im Führerbunker", "Das deutsche Kettensägenmassaker" und "Terror 2000 - Intensivstation Deutschland".

Schlingensief macht nicht nur Filme, sondern bald auch Kunst-Aktionen, Hörspiele und Theaterstücke. Sein Debüt als Theaterregisseur gibt er 1993 an der Berliner Volksbühne mit der Produktion "100 Jahre CDU - Spiel ohne Grenzen". Drei Jahre später folgt "Rudi Dutschke, 68". Bei seinen Projekten machen unter anderem bekannte Schauspieler, Behinderte und Arbeitslose mit. Schlingensief steuert das kreative Chaos. Mit unbändiger Energie bringt er alle möglichen Themen zusammen: Voodoo und Wagner, Talkshow und Abendmahl, Joseph Beuys und Jürgen Möllemann. 1998 gründet Schlingensief die Partei "Chance 2000" und springt mit Arbeitslosen in den Wolfgangsee, um Bundeskanzler Helmut Kohls (CDU) Feriendomizil zu überfluten.

Theater, Film, Oper, Aktionskunst

Schlingensief verbindet Theater, Film, Oper, Aktion und ist selbst Teil seiner Kunst. Er ist umstritten, gilt aber auch als einer der bedeutendsten Künstler seiner Zeit. Als Provokateur abgetan wird er zum Beispiel, als er im Jahr 2000 vor die Wiener Staatsoper einen Container mit Asylbewerbern stellt. Das Publikum soll per Anruf entscheiden, wer abgeschoben wird. Als er 2004 in Bayreuth "Parsifal" inszeniert, wird ein neuer Skandal erwartet. Doch er findet neue, eindrückliche Bilder für Schuld, Glaube und Erlösung.

2008 wird bei Schlingensief Lungenkrebs diagnostiziert und ein Lungenflügel entfernt. Auch dieses Thema verarbeitet er in den Stücken "Mea Culpa" und "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir". Er veröffentlicht Tagebücher, spricht in Talkshows über seine Krankheit. "Ich merke gerade, wie gerne ich lebe. Das habe ich nicht gewusst vorher", sagt er in einem Interview. "Ich wäre wirklich sautraurig, wenn ich gehen müsste." Er habe tolle Produktionen gehabt. "Ich hab's geliebt zu basteln und zu bauen." 2009 leitet Schlingensief noch die Berlinale Jury, heiratet seine 20 Jahre jüngere Freundin Aino und plant ein Operndorf in Burkina Faso mit Schule, Krankenstation, Theater und Opernstudio. Am 21. August 2010 stirbt Christoph Schlingensief mit 49 Jahren in Berlin.

Stand: 21.08.2015

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