Als Strippenzieher braucht der kleine Joseph-Marie flinke Finger und wachsame Augen. Von Kindesbeinen an hockt der 1752 geborene Sohn des Webers Jacquard in der Lyoner Werkstatt seines Vaters. Oben am Webstuhl muss er die senkrechten Kettfäden heben und senken, gerade so, wie es das Webmuster erfordert.
Es ist äußerst anstrengend und knifflig, bei bis zu 800 nebeneinander laufenden Fäden immer den richtigen zu erwischen. Fehler dürfen dem Strippenzieher aber nicht passieren, sonst ist das Muster verdorben. Joseph-Marie Jacquard hasst die eintönige Arbeit und geht als Jugendlicher lieber bei einem Buchbinder in die Lehre.
Von Napoleon protegiert
Nach dem Tod der Eltern erbt der 20-jährige Jacquard die Manufaktur. Er versucht sich an technischen Verbesserungen, hat aber wenig Erfolg, so dass er fast verarmt. Als Lyon 1789 zu einem der Brennpunkte der Französischen Revolution wird, muss der Weber die Stadt verlassen. Erst sechs Jahre später kehrt er zurück und macht sich erneut daran, den Webstuhl zu automatisieren. Vermögende Textilhersteller erkennen den Wert seiner Arbeiten und unterstützen ihn finanziell. Schließlich gewinnt Jacquard sogar die Protektion Napoleon Bonapartes, der ihm Zutritt zum Pariser Konservatorium der Künste und Gewerbe gewährt.
Dort entdeckt Jacquard die Überreste eines mechanischen Musterwebstuhls, den der Ingenieur Jacques de Vaucanson ein halbes Jahrhundert zuvor konstruiert hatte. Er entwickelt dessen Steuerung weiter und macht eine Erfindung, die zur Grundlage der industriellen Revolution in der Textilproduktion wird: den lochkartengesteuerten Webstuhl. Die zeitraubende Arbeit des Strippenziehens übernimmt eine zu einem Endlosband zusammengenähte Folge von gelochten Pappkarten. Sie werden von Nadeln abgetastet, wobei ein Loch an einer bestimmten Stelle Fadenhebung und kein Loch Fadensenkung bewirkt. Gesteuert von rund 1.000 Karten kann ein Webstuhl nicht nur schlichte Muster, sondern sogar komplexe Bilder herstellen.
Rebellion gegen den Webautomaten
Am 19. April 1805 stellt Joseph-Marie Jacquard sein technisches Wunderwerk vor. Napoleon, inzwischen Kaiser der Franzosen, ist begeistert von den neuartigen "Jacquardstoffen" – ganz im Gegensatz zu den Weber-Zünften in Lyon. Sie rebellieren gegen den kosten- und personalsparenden Automaten, verbrennen Jacquards Webstuhl und drohen, den Erfinder in der Rhone zu ersäufen. Doch angesichts der billigen Konkurrenz aus England bricht ihr Widerstand bald zusammen. Aus den Manufakturen entstehen große Fabriken und auch das Bürgertum kann sich nun buntgemusterte Stoffe leisten, die zuvor dem Adel vorbehalten waren. 1812 klappern in Frankreich bereits 18.000 Jacquardmaschinen.
Ihr Erfinder wird von Napoleon mit dem Kreuz der Ehrenlegion geehrt und setzt sich dank einer Rente des Kaisers zur Ruhe. 82-jährig stirbt Joseph-Marie Jacquard im August 1834 auf seinem Alterssitz vor den Toren Lyons. 50 Jahre später führt der Amerikaner Herman Hollerith Jacquards Lochkarten in die Datenverarbeitung ein und bahnt so der binären Computerprogrammierung den Weg. Aus dem von Hollerith gegründeten Unternehmen entsteht 1924 die "International Business Machines Corporation", kurz IBM.
Stand: 19.04.2015
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