Im Frühjahr 1924 träumen zwei Männer unabhängig voneinander von einem Flug über den Nordpol. Der eine Mann ist der Norweger Roald Amundsen, eine Legende der polaren Entdeckungsgeschichte. Er war 1911 der erste Forscher am Südpol. Seine Versuche, den Nordpol mit einem Flugzeug zu erreichen, sind bisher gescheitert.
Der andere Mann ist der Italiener Umberto Nobile, weltweit anerkannter Konstrukteur von Luftschiffen. Er möchte Flugrouten über den Pol nach Amerika und Japan einrichten: "Ich bin überzeugt, dass auf diesem Sektor das Luftschiff dem Flugzeug weit überlegen ist." Die Luftschiffe, die er in seiner 1918 gegründeten "Aeronautischen Konstruktionsfabrik" produziert, sind flexibler gebaut als die Zeppeline mit ihren starren Stahlgerüsten.
Mit dem Luftschiff "Norge" am Nordpol
Die beiden Männer schließen sich zu einem Expeditionsteam zusammen. Amundsen gewinnt den US-Millionär Lincoln Ellsworth als Sponsor. Nobile ist als Pilot vorgesehen. Italiens Staatschef Benito Mussolini wittert einen Propagandaerfolg für sein faschistisches Regime und verkauft das staatliche Luftschiff "N-1", das Nobile gebaut hat, an Amundsen. Dieser benennt es allerdings sofort in "Norge" ("Norwegen") um.
Am 11. Mai 1926 startet die "Norge" zur "Amundsen-Ellsworth-Polarexpedition". Nobiles Namen kommt im Titel nicht vor, das ärgert ihn maßlos. Trotz der persönlichen Konkurrenz zwischen Amundsen und Nobile gelingt die Expedition: Am frühen Morgen des 12. Mai überfliegt das Luftschiff als erstes Fluggerät den Nordpol und landet später in Alaska.
Amundsen und Nobile mögen sich nicht
In ihren Tagebüchern dokumentieren die beiden Männer ihre gegenseitige Abneigung. "Amundsen führt sich auf wie ein Halbgott", notiert Nobile. Amundsen wiederum ist sich sicher: "Nobile ist ungenügend qualifiziert. Sein Auftreten zeigt gewaltige Nervosität und ein exzentrisches Naturell."
In Italien wiederum wird Nobile über Nacht zum Nationalhelden und Mussolini befördert ihn zum General. Noch in Alaska plant der Geehrte bereits eine weitere Nordpolexpedition. Nach seiner Rückkehr baut er ein neues, weit größeres Luftschiff - die "Italia". Damit erreicht er am 24. Mai 1928 zum zweiten Mal den Nordpol und setzt Funksprüche ab. Es sind Jubelmeldungen an den Papst, den italienischen König und Mussolini.
Absturz im Sturm
Nur einen Tag später gelangt Nobile mit seiner Mannschaft auf dem Rückweg in einen schweren Sturm. Dickes Eis bildet sich auf dem Luftschiff. Das Höhenruder klemmt, die Gondel stürzt ab. "Ich spürte, wie meine Knochen brachen", so Nobile später.
Der Luftschiffer liegt schwer verletzt mit weiteren Überlebenden auf einer treibenden Eisscholle. Ihr Notruf wird zufällig von einem Amateurfunker aufgefangen und löst eine Suchaktion aus. Daran beteiligt sind 21 Flugzeuge, 16 Schiffe und mehr als 1.500 Rettungskräfte aus sechs Nationen. Auch Nobiles Intimfeind Amundsen ist dabei, er stürzt aber mit dem Flugzeug ab. Seine Leiche wird nie gefunden.
Mussolinis Wut
Einen Monat nach dem Absturz findet ein schwedischer Pilot die Eisscholle mit den Verletzten. Er hat in seiner Maschine nur einen Platz und sagt, er habe Befehl, Nobile an Bord zu nehmen. Die anderen Überlebenden müssen bis zu ihrer Rettung noch ausharren. Für Mussolini ist Nobile nicht nur ein Feigling, weil er sich als Erster retten ließ. Er macht den Luftschiff-Konstrukteur auch für die Katastrophe verantwortlich: "Eine Schande für Italien!"
Italien und die Weltpresse wenden sich gegen Nobile. Er emigriert in die Sowjetunion, dann geht er in die USA. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wird er rehabilitiert, kehrt nach Italien zurück und lehrt als Professor für Aeronautik an der Universität von Neapel. 1969 werden die Expeditionen aufwendig verfilmt - mit Peter Finch als Nobile und Sean Connery als Amundsen. Für Umberto Nobile ist das eine Genugtuung. Er stirbt am 30. Juli 1978 mit 93 Jahren in Rom.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Marfa Heimbach
Redaktion: David Rother
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 30. Juli 2023 an Umberto Nobile. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
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