Bereits seit Ende der 1960er Jahre wird in den Niederlanden öffentlich über Sterbehilfe diskutiert. Vor allem Ärzte, Vertreter von Betroffenen und der Evangelischen Kirche sowie Juristen debattieren über die ethischen Voraussetzungen für einen selbstbestimmten Tod in Würde.
"Erst im Nachhinein hat auch der Gesetzgeber gehandelt", sagt der Journalist und Fachautor Gerbert van Loenen. "Der Durchbruch ist vor Gericht passiert und nicht im Parlament." Es ist der Fall einer Ärztin in der nordholländischen Kleinstadt Noordwolde, der 1973 Bewegung in die Diskussion um aktive und passive Sterbehilfe bringt.
Ärztliche Hilfe in rechtlicher Grauzone
Die Ärztin hatte ihrer schwerstkranken und sterbewilligen Mutter eine tödliche Morphinspritze verabreicht. In einem aufsehenerregenden Prozess wird die Ärztin zu einer Woche Gefängnis auf Bewährung verurteilt: eine deutliche Mahnung des Gerichts, die gesetzlichen Regelungen für Sterbehilfe zu liberalisieren.
Doch noch lange bewegen sich Ärzte, die aktiv oder passiv Hilfe beim Suizid leisten wollen, in einer rechtlichen Grauzone. Erst 1984 urteilt das höchste Gericht der Niederlande im Fall einer sterbenskranken 95-jährigen Frau, dass eine Tötung auf Verlangen unter ganz bestimmten, genau definierten Umständen rechtens sein kann.
Kein genereller Anspruch auf Sterbehilfe
Weitere 17 Jahre vergehen, bis am 10. April 2001 der Senat der Niederlande ein neues Sterbehilfegesetz verabschiedet. Es ist das erste weltweit, das nicht nur den assistierten Suizid, sondern auch die aktive Sterbehilfe legalisiert. Allerdings gilt diese Ausnahmeregelung nur für Ärzte; für alle anderen bleibt Tötung auf Verlangen und Beihilfe zum Suizid eine Straftat.
Einen generellen Anspruch auf Sterbehilfe begründet das Gesetz nicht. Ein Arzt muss überzeugt sein, dass der Patient unerträglich leidet und keine weitere Behandlungsoption Aussicht auf Besserung bietet. Zudem muss ein zweiter Arzt den Befund bestätigen; im Normalfall sind es dann die Hausärzte, die die Sterbehilfe leisten.
Prozess um getötete Demenzpatientin
"Viele Niederländer sind überzeugt, seither einen Anspruch auf Sterbehilfe zu haben", weiß Gerbert van Loenen. "Dies aber ist nicht der Fall." Abgesehen von sehr genau definierten Voraussetzungen für eine Lebensbeendigung auf Verlangen, können Ärzte nach ihrer ethischen Überzeugung selbst entscheiden, ob sie zur Sterbehilfe bereit sind.
So wie etwa die niederländische Ärztin Marinou Arends, die 2016 angeklagt ist, eine Demenzpatientin in einem Pflegeheim auf Verlangen getötet zu haben. Die 74-Jährige hatte allerdings noch bei klarem Verstand in mehreren Verfügungen deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie als Demente nicht in einem Heim dahinvegetieren wolle. 2020 wird Marinou Arends freigesprochen. Das höchstrichterliche Urteil bestätigt damit erstmals, dass auch bei dementen Menschen nach Prüfung aller Sorgfaltskriterien eine Tötung auf Verlangen möglich ist.
Autorin des Hörfunk-Beitrags: Andrea Kath
Redaktion: Hildegard Schulte
Programmtipps:
"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 10. April 2021 ebenfalls an die Legalisierung der Sterbehilfe in den Niederlanden. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
ZeitZeichen am 11.04.2021: Vor 100 Jahren: Tod der letzten deutschen Kaiserin Auguste Viktoria