Das deutsche Sexualstrafrecht wurzelt im 19. Jahrhundert und brauchte lange Zeit, um sich aus dem Moralkorsett dieser Zeit zu befreien. Bis heute dauern die Diskussionen darum an, wo sich der Staat mit welcher Strafverfolgung einmischen soll. Es ist ein Ringen um Werte, um den Schutz vor Gewalt und das Recht auf Selbstbestimmung.
Unzucht und Sittlichkeit
Nach der deutschen Reichsgründung 1871 tritt das Strafgesetzbuch in Kraft. Sexualstraftaten finden sich im Abschnitt "Vergehen und Verbrechen wider die Sittlichkeit". Flankiert wird dieser Passus in den kommenden Jahren um weitere Regeln wie den Paragrafen 175, der sexuelle Handlungen zwischen Männern als "widernatürliche Unzucht" und "schwere sittliche Verfehlung" unter Strafe stellt. Oder Paragraf 184 über die "Verbreitung unzüchtiger Schriften". Er wird beispielsweise herangezogen, als 1951 die Aufführung des Films "Die Sünderin" an einigen Orten verboten wird. Die junge Hildegard Knef ist für 20 Sekunden nackt zu sehen - ein Skandal in der prüden Adenauerzeit!
Außerehelicher Geschlechtsverkehr gilt als zu bestrafende Unzucht, das Überlassen von Zimmern an Unverheiratete als strafbare Kuppelei. Der Graben zwischen dem Strafrecht und der gelebten Realität klafft in den 1960er Jahren immer weiter auseinander. Zu den provokanten Sprüchen der 1968-er Bewegung gehört "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment".
Der Paradigmenwechsel
Eine zwei Jahrzehnte andauernde gesellschaftliche und politische Debatte mündet schließlich in einer Strafrechtsreform. Der Bundestag verabschiedet sie am 7. Juni 1973. Es ist ein großer Wurf, endlich werden Recht und Moral getrennt! Der Staat schützt nicht mehr das sittliche Empfinden einer diffusen Allgemeinheit, sondern das individuelle, sexuelle Selbstbestimmungsrecht seiner Bürgerinnen und Bürger.
Das "Nein heißt Nein"-Gesetz
Aber weitere wichtige Schritte bleibt das neue Strafrecht schuldig. Der diskriminierende "Schwulen-Paragraf"175 wird erst 1994 restlos gestrichen. Und es dauert weitere drei Jahre, bis 1997 endlich auch die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt wird. Zahlreiche Versuche waren zuvor gescheitert, den ersten hatte die SPD 1972 gemacht.
Einen weiteren Meilenstein gibt es dann 2016 mit dem sogenannten "Nein heißt Nein"-Gesetz. Es stellt jede sexuelle Handlung gegen den "erkennbaren Willen" einer Person unter Strafe. Zuvor mussten Vergewaltigungsopfer in Gerichtsprozessen nachweisen, dass sie sich körperlich und nicht nur verbal gewehrt hatten.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Heide Soltau
Redaktion: Gesa Rünker
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 7. Juni 2023 an die Reform des Sexualstrafrechts. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
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