Die Weihnachtsansprache des Papstes von 1942, gesendet von Radio Vatikan am 24. Dezember, mittags um 12 Uhr. Ein Schlüsseldokument für die Beantwortung der hoch umstrittenen Frage: Warum hat das Oberhaupt der Katholischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus, Pius XII., bürgerlicher Name: Eugenio Pacelli, nicht laut und deutlich seine Stimme erhoben gegen den millionenfachen Mord an den Juden Europas? Warum sich wieder und wieder auf eine Verpflichtung zur strikten Neutralität berufen – anstatt Opfer und vor allem Täter klar zu benennen?
Diplomatisch gewundene Formulierung
Der Kirchen-Historiker Hubert Wolf sagt: "Es gibt eine einzige öffentliche Stellungnahme dieses Papstes, die als ein Protest gegen den Holocaust verstanden wird" - in einem Abschnitt ziemlich am Ende eben jener Radio-Botschaft an Weihnachten 1942. Die Menschheit, sagt Pius hier, habe eine Verpflichtung gegenüber "den Hunderttausenden, die persönlich schuldlos, bisweilen nur um ihrer Volkszugehörigkeit oder Abstammung willen dem Tode geweiht oder einer fortschreitenden Verelendung preisgegeben sind".
Diese gedrechselte, diplomatisch gewundene Formulierung soll eine Verurteilung des Holocaust sein? Warum bringt Pius das Wort Juden nicht über die Lippen? Hier helfe es, so der Theologe und Historiker Wolf, einen Schritt zurückzutreten.
Die Nationalsozialisten hätten nach dem Überfall auf Polen, so Wolf, "im Jahr 1940 viele katholische Polen, Intellektuelle, aber auch Priester und Nonnen, umgebracht. Dazu hat der Papst nicht laut protestiert. Jetzt, ‘42, als eine Million Juden innerhalb ganz kurzer Zeit in Polen und der Ukraine von den Nazis ermordet werden, entscheidet er sich, irgendwas, ja, verklausuliert zu sagen. Aber jetzt kann er natürlich die Juden nicht nennen, nachdem er vorher die Polen auch nicht genannt hat. Das ist die Tragik, die dahintersteckt".
Pius XII. hat laut dem Historiker Wolf keine einzige seiner Reden selber geschrieben. Dafür hat er Ghostwriter, meist deutsche Theologen, Jesuiten. Ihre Texte werden übersetzt und getippt, "dann hat der Papst mit seiner kleinen Handschrift Ergänzungen" vorgenommen, sagt der Historiker. Umstritten ist unter Forschern, ob der Papst durch seinen Vortrag die Rede von 1942 abgemildert oder sogar zugespitzt hat.
Papst unter Druck der Alliierten
Der zeitliche Kontext der Rede: Im Dezember 1942 gibt es eine Verurteilung des Holocaust durch die Alliierten Mächte, die im Zweiten Weltkrieg gegen das nationalsozialistische Deutschland kämpfen. Dieser Deklaration schließt sich der Papst nicht an, aber er steht laut dem Historiker Wolf zu diesem Zeitpunkt unter internationalem Druck, sich zum Mord an den Juden zu äußern. Deshalb, und angesichts sich im Herbst 1942 verdichtender Nachrichten über die fabrikmäßige Ermordung von Millionen Juden, könnte der Papst zu der Überzeugung gelangt sein, er müsste nun doch etwas zur Shoah sagen, wenn auch verklausuliert. Beweisen lässt sich das nicht.
Jahrzehntelang hält der Vatikan alle Dokumente des Pacelli-Pontifikats, also der Jahre 1939 bis 1958, unter Verschluss. Nach Öffnung der Archive im Jahr 2020 zeigt sich, dass es das Manuskript der Rede von 1942 wohl nicht mehr gibt. Was die Münsteraner Forscher um Hubert Wolf in den Archiven finden, ist gleichwohl eine Sensation: rund 15.000 Bittschreiben an den Papst, viele davon das letzte schriftliche Zeugnis von ermordeten Jüdinnen und Juden.
Asking the pope for help heißt ein groß angelegtes Projekt, mit dem jetzt diese Briefe transkribiert, übersetzt und einer breiten Öffentlichkeit digital zugänglich gemacht werden sollen, damit die Menschen, deren Leben und Andenken die Nazis vernichten wollten, wieder eine Stimme bekommen.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Almut Finck
Redaktion: David Rother
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 24. Dezember 2022 an die Weihnachtsansprache von Papst Pius XII.. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
ZeitZeichen am 25.12.2022: Vor 225 Jahren: Immanuel Kants Schrift zu "Tugendpflichten" erscheint