Im 11. Jahrhundert dreht sich in der islamischen Theologie alles um die Frage nach der Willensfreiheit des Menschen. Unterliegt alles menschliche Tun der göttlichen Vorbestimmung? Oder ist es Aufgabe der menschlichen Vernunft, den göttlichen Plan auszulegen und umzusetzen?
Zwei theologische Strömungen stehen sich im Kalifenreich der Abbasiden gegenüber. Die spekulative Theologie setzt sich mit dem Andersdenken auseinander und folgt der rationalistischen Schule der sogenannten Mu'tazila. Deren Ziel ist es, kausale Zusammenhänge von Ursache und Wirkung zu finden. Das wiederum lehnen die traditionalistisch-dogmatischen theologischen Schulen ab. Für sie ist Gott die Ursache von allem.
Während theologisch-politischer Wende aktiv
"Die Mu'tazila hat sich nicht durchgesetzt", sagt der Islamwissenschaftler Heinz Halm. "Der Glaube an die Unerschaffenheit des Koran trägt den Sieg davon: Neben der Kausalität Gottes ist keine andere Form der Kausalität vorstellbar." Diese theologisch-politische Wende vollzieht sich während der Lebenszeit von Omar Khayyam. Der persische Mathematiker, Astronom und Dichter wird im Jahr 1048 etwa 60 Tage nach Frühlingsbeginn geboren.
Er ist der Sohn eines Zelt- oder Tuchmachers und stammt aus Nischapur. Die Stadt liegt im Hochgebirge des heutigen Nordostiran an der Seidenstraße. Damals gehört sie zu den größten und wohlhabendsten Städte der Welt. Zugleich ist Nischapur in dieser Zeit einer der angesehensten Wissenschaftsstandorte.
Von Sultan Malik-Schah unterstützt
In der ersten Hälfte seines Lebens ist Omar Khayyam als Wissenschaftler tätig. Er schreibt unter anderem komplexe Abhandlungen zu Problemen der Algebra. Als die Turkvölker der Seldschuken ins arabische Reich eindringen und Nischapur erobern, macht Khayyams Karriere einen Sprung: "Der Sultan Malik-Schah machte den Imam Omar zu seinem Vertrauten, erwies ihm die allerhöchsten Ehrungen und setzte ihn neben sich auf den Thron", notiert der Historiker Beyharhi im 11. Jahrhundert.
Der Seldschuken-Sultan baut Khayyam ein Observatorium in Isfahan und beauftragt ihn 1073, einen Sonnenkalender zu erstellen. Denn der islamische Mondkalender ist zur Bestimmung der Jahreszeiten zu ungenau. Khayyam errechnet ein Jahr mit einer Länge von 365 Tagen sowie acht Schalttagen innerhalb von 33 Jahren. Das ist sogar noch etwas genauer als das erst 500 Jahre später errechnete Gregorianische Jahr unseres heutigen Kalenders.
Mit ironischer Dichtung gegen Dogmatiker
Als der Sultan Malik-Schah 1092 stirbt, wird Khayyam jedoch ausgebremst. Das Observatorium wird geschlossen und die Kalenderreform abgeschafft. Der 44-Jährige zieht sich frustriert aus der Wissenschaft zurück. In der Einleitung seiner Algebra schreibt er:
Oma Khayyam wird offenbar verleumdet, vielleicht sogar verfolgt. Mittels der Dichtung greift er ironisch die zunehmende Engstirnigkeit in der politisch-theologischen Debatte an. In zahlreichen Vierzeiler-Gedichten, sogenannten Rubbayyat, spottet er über theologische Dogmatiker - wie in diesem Beispiel:
Aus anderen Versen spricht Verbitterung: "Da doch nur eintrifft, was Er zugelassen, / Wie magst Du da noch große Pläne fassen?"
Wirkung bis in die Gegenwart
Der kritische Sarkasmus von Omar Khayyam, der mit 83 Jahren in seiner Geburtsstadt Nischapur stirbt, wirkt bis heute: Als der türkische Pianist und Komponist Fazil Say 2012 ein Vierzeiler des Dichters twittert, in dem es heißt "Du sagst, Du wirst jeden Gläubigen mit zwei Jungfrauen belohnen. / Ist das Paradies denn ein Bordell?", wird er in Ankara angeklagt und zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Marfa Heimbach
Redaktion: David Rother
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 4. Mai 2023 an Omar Khayyam. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
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