"Wir haben keine menschliche Zukunft, wenn wir nicht versuchen, andere als andere zu verstehen." So formuliert Margarete Mitscherlich ihre Grundhaltung. "Ohne dieses Einfühlungsvermögen wird es immer wieder Kriege geben." Sie ist schon früh mit dem Leben zwischen zwei Kulturen konfrontiert. Geboren wird sie am 17. Juni 1917 als Margarete Nielsen im deutsch-dänischen Grenzgebiet. Ihr Vater ist dänischer Landarzt, ihre Mutter deutsche Schuldirektorin.
1937 absolviert Margarete ihr Abitur an einer Privatschule in Flensburg. Sie studiert zuerst in Kiel Literatur, später Medizin in München und Heidelberg. Sie lehnt die Nationalsozialisten ab, leistet aber keinen Widerstand. "Ich war nicht mutig genug", sagt sie später.
Fortbildung in London
Als sie nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz arbeitet, lernt sie 1947 den verheirateten Arzt Alexander Mitscherlich kennen. Er macht die neun Jahre jüngere Kollegin mit der Psychoanalyse vertraut. Die beiden haben eine Affäre. 1949 kommt Sohn Matthias auf die Welt. Margarete kehrt allein nach Deutschland zurück, um sich in Psychotherapie und -analyse auszubilden.
Als Zweijähriger kommt der Sohn zu ihrer Mutter nach Dänemark. 1950 promoviert Margarete in Tübingen. Fünf Jahre später heiratet sie Alexander. Beide arbeiten an der von ihm geleiteten Klinik für psychosomatische Medizin an der Universität Heidelberg. Margarete geht für ein Jahr zur Fortbildung nach London. Dort lernt sie Anna Freud kennen.
"Die Unfähigkeit zu trauern"
1960 gründen die Mitscherlichs in Frankfurt am Main das Siegmund-Freud-Institut. Sie schließen Freundschaft mit Adorno und Horkheimer, den Vätern der Frankfurter Schule. 1967 veröffentlicht das Ehepaar den Bestseller "Die Unfähigkeit zu trauern" und fordert darin eine gesellschaftliche Aufarbeitung der NS-Zeit.
Das Paar sympathisiert mit dem Aufbruch der Studentenbewegung. "Mein Lebensziel war und ist die Befreiung von Denktabus, Vorurteilen und Ideologien", sagt Margarete später.
"Die Zukunft ist weiblich"
In der ersten Ausgabe der "Emma" bekennt sie 1977: "Ich bin Feministin." Die Medizinerin engagiert sich für die Abschaffung des Paragrafen 218 und verklagt 1978 gemeinsam mit Alice Schwarzer den "Stern" wegen eines sexistischen Titelfotos.
Nach dem frühen Tod ihres Mannes 1982 schreibt sie Bücher wie "Die friedfertige Frau", "Die Zukunft ist weiblich" und "Über die Mühsal der Emanzipation". Am 12. Juni 2012 stirbt Margarete Mitscherlich mit 94 Jahren in Frankfurt am Main.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Melahat Simsek
Redaktion: Gesa Rünker
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 12. Juni 2022 an Margarete Mitscherlich. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
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