Im Herbst 1966 scheitert die Regierungskoalition unter Kanzler Ludwig Erhard (CDU): Union und FDP sind sich uneins, wie im Bundeshaushalt das Finanzloch von knapp vier Milliarden Mark zu stopfen ist. Daraufhin verabreden Union und SPD die Bildung einer Großen Koalition. Als Nachfolger Erhards wird der CDU-Politiker Kurt Georg Kiesinger parteiintern nominiert.
Der eloquente Jurist ist 1946 in die Partei eingetreten, gilt als Fachmann für Außenpolitik und ist seit 1958 Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Doch dann holt den designierten Kanzlerkandidaten seine nationalsozialistische Vergangenheit ein: Er war von 1933 bis 1945 NSDAP-Mitglied. Von 1940 an arbeitete er im Reichsaußenministerium und stieg dort drei Jahre später zum stellvertretenden Abteilungsleiter der Rundfunkabteilung auf.
Von der SPD unterstützt
Der 1904 geborene Kiesinger behauptet, das NS-Regime nicht aktiv unterstützt zu haben. Er sei in die NSDAP eingetreten, in der "naiven Überzeugung, man kann da drin die nationalen Kräfte gegen die nationalsozialistischen auszuspielen". Seine Darstellung stützt ein Dokument von 1944, das aus einem Washingtoner Archiv stammt. Darin heißt es, Kiesinger habe während seiner Tätigkeit in der rundfunkpolitischen Abteilung antijüdische Aktionen gehemmt und verhindert.
Von der SPD erhält Kiesinger Unterstützung: Am 1. Dezember 1966 wird in der Bundesrepublik zum ersten Mal ein Kanzler mit der Mehrheit der beiden größten Bundestagsfraktionen gewählt. Kiesinger bekommt 340 Stimmen. Das sind knapp 70 Prozent aller Abgeordneten.
Von Beate Klarsfeld geohrfeigt
Doch die Kritik am früheren Nationalsozialisten geht weiter. 1968 verpasst ihm die Nazi-Jägerin Beate Klarsfeld auf dem CDU-Parteitag im November 1968 in Berlin eine Ohrfeige und ruft: "Kiesinger, Nazi, abtreten!" Für Klarsfeld ist auch rückblickend klar: Der "Verbindungsmann zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Propagandaministerium" habe "seine ganze Intelligenz in den Dienst der Nationalsozialisten gestellt und wusste genau, was geschah - militärisch und in den Vernichtungslagern".
Kiesinger tritt nicht zurück, sondern bringt Klarsfelds Aktion mit dem Protest der Außerparlamentarischen Opposition (APO), die gegen den Staat ihrer Eltern rebelliert, in Verbindung: "Was sie hier getrieben hat und was sie sonst treibt, das steht in Verbindung mit jenen Radaugruppen, die wir hier im letzten Jahr in Deutschland in unseren Universitätsstädten erlebt haben."
Im Briefwechsel mit der DDR
Die Massenproteste gegen die von der Großen Koalition geplanten Notstandsgesetze bestätigen Kiesinger in seiner Auffassung, dass im Ernstfall die Grundrechte einzuschränken seien. Auf Rufe von Demonstranten, die "keine Notstandsgesetze" skandieren, antwortet er: "Je mehr ich Geschrei dieser Art höre, desto deutlicher wird mir, wie notwendig es ist, in unserem Land für Ordnung zu sorgen."
Neben allen Turbulenzen gibt es auch Erfolge für die Große Koalition: Sie saniert den maroden Haushalt, baut die Staatsschulden ab und kurbelt die Wirtschaft an. Die Regierung baut auch den Sozialstaat aus. Dazu gehört zum Beispiel die Einführung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Außenpolitisch werden die Ostkontakte verbessert und mit Rumänien, der CSSR und Jugoslawien diplomatische Beziehungen aufgenommen. Mit der DDR steht Kiesinger im Briefwechsel.
Nach drei Jahren als Kanzler gescheitert
Als im März 1969 die Wahl des Bundespräsidenten ansteht, wird deutlich, dass die SPD sich von der Union absetzt: Die Sozialdemokraten stellen mit Justizminister Gustav Heinemann einen eigenen Kandidaten für das höchste Staatsamt auf. Als der SPD-Mann mithilfe der oppositionellen FDP gewählt wird, ist für Kiesinger klar: Die Große Koalition ist am Ende.
Die Bundestagswahl 1969 bringt für ihn eine herbe Niederlage. Die Union wird mit rund 46 Prozent zwar wieder stärkste Kraft, verfehlt aber knapp die absolute Mehrheit. Nach drei Jahren Kanzlerschaft ist Kiesinger gescheitert. Das Ende der Großen Koalition ist der Anfang der sozialliberalen Koalition aus SPD und FDP.
Kiesinger bleibt zunächst Parteivorsitzender, verliert aber zunehmend den Rückhalt in der CDU. 1971 verzichtet er auf die erneute Kandidatur zum Chefposten. Nach elf Jahren im Bundestag kandidiert er 1980 nicht erneut als Abgeordneter. Danach zieht er sich aus der Politik zurück. Kurt Georg Kiesinger lebt bis zuletzt in Tübingen, wo er am 9. März 1988 mit 83 Jahren stirbt.
Autor des Hörfunkbeitrags: Wolfram Stahl
Redaktion: Matti Hesse
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 9. März 2023 an Kurt Georg Kiesinger. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
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