Eine Schwarz-Weiß-Zeichnung zeigt zwei kleine Jungen. Einer zieht auf einem Wägelchen eine tote Ratte hinter sich her. Die Bildunterschrift lautet: "Von wat is se denn jestorben?" - "Unse Wohnung is zu nass!" Der Zeichner Heinrich Zille bringt auf den Punkt, was er selbst erlebt hat: die sozialen Missstände in der deutschen Hauptstadt, die durch die Industrielle Revolution zur Millionenmetropole geworden ist.
Er wird am 10. Januar 1858 im sächsischen Radeburg geboren und kommt mit neun Jahren nach Berlin. Sein Vater, der vor Schulden geflohen ist, will neu anfangen. Die Familie landet in einer Kellerwohnung im Arme-Leute-Viertel. "An den Wänden zerrissene Tapeten", erinnert sich Zille später. "Blutflecke von zerquetschten Wanzen." Ein Bündel Stroh soll das Bett sein.
Zeichnen als Alternative zur "Tretmühle"
Heinrich wächst "bei Entbehrungen aller Art" auf, wie er in einem Lebenslauf schreibt. Er muss schon als Kind zum Unterhalt der Familie beitragen. Sein selbst verdientes Geld gibt er für privaten Zeichenunterricht aus. Nach der Schule lernt er in der Lithografen-Lehre, wie man Druckvorlagen herstellt. Parallel dazu bildet sich Zille weiter: An vier Abenden der Woche nimmt er Unterricht bei Professoren der Königlichen Hochschule und der Akademie der Künste.
Zille zeichnet Damenmoden, Muster für Beleuchtungskörper und Werbemotive. Schließlich landet er bei der Photographischen Gesellschaft, bei der er 30 Jahre lang angestellt ist. Diese "Tretmühle" hält er aber nur aus, weil er morgens für sich zeichnet: "Ich musste erst ein Bild für mich gemacht haben, ehe ich an die Arbeit ging."
"Das herbe Leben der Armen"
Zille lernt Künstler wie Adolf von Menzel, Max Liebermann und Käthe Kollwitz kennen. Sie sind Teil der "Berliner Secession" - einer Gruppe, die gegen die konservative akademische Kunst aufbegehrt. Sie drängen Zille, seine Arbeiten 1901 in eine Ausstellung der "Secession" zum ersten Mal zu präsentieren. Es sind Zeichnungen, "die das herbe Leben der Armen zeigten", wie er notiert.
Kaiser Wilhelm II. verurteilt solche "Rinnsteinkunst", wie er die der Werke der Sezessionisten nennt, die ungeschminkt den Alltag und das Elend der Arbeiterschaft vor Augen führen. Dazu gehört auch Zilles Zeichnung einer schwangeren Arbeiterin, die mit einem Kind auf dem Arm auf einen Fluss zugeht, um sich zu ertränken. Darunter heißt es: "Mutta, is ooch nich kalt?" - "Lass man, de Fische leben ja immer drin!"
Marketing mit dem eigenen Namen
Zille arbeitet bald für die Satirezeitschrift "Simplicissimus" und "Die lustigen Blätter". Der große Durchbruch gelingt ihm 1908 mit seinem Buch "Kinder der Straße". Es folgen unter anderem der Bildband "Mein Milljöh" sowie die Zyklen "Berliner Luft" und "Hurengespräche". "Zille hat angefangen, dieses Milieu zu thematisieren, als er selbst nicht mehr in ihm gelebt hat", sagt der Kunsthistoriker Pay Matthis Karstens. Der Zeichner habe zu diesem Zeitpunkt bereits im gut situierten Charlottenburg gewohnt.
Zille nutzt seine Bekanntheit, um damit Geld zu verdienen. Es gibt Lebkuchen mit seinen Motiven, er wirbt mit seinen Bildern für Zigaretten und es gibt sogenannte Zille-Bälle. Bei diesen Veranstaltungen sollen Reiche für Arme spenden. Aber dann werden Kostüm-Bälle daraus und Reiche verkleiden sich als Arme, wie Karstens erklärt. "Zille meinte einmal dazu: 'Det hab ick wirklich nicht gewollt. Die enen amüsieren sich zu Tode und die anderen hungern sich zu Tode.'"
Vielfältiger Künstler
1924 wird Zille zum Mitglied der Akademie der Künste ernannt. Zum 70. Geburtstag schreibt Kurt Tucholsky ihm 1928 ein Gedicht: "Liebe, Krach, Jeburt und Schiss - Du hast jesacht wies is." Die Popularität des Berliner Originals ist auf ihrem Höhepunkt. Große Feierlichkeiten finden statt.
Bald darauf, am 9. August 1929, stirbt Heinrich Zille in Berlin. Er bleibt wegen seines eigenen Marketings vor allem als Chronist des Proletariats bekannt. Er hat aber auch idyllische Badestudien und erotische Eindeutigkeiten gezeichnet. Außerdem war er als Bühnenbildner und Grafiker tätig. Und seine Bedeutung als Fotograf wird erst lange nach seinen Tod erkannt.
Autorin und Autor des Hörfunkbeitrags: Veronika Bock und Ulrich Biermann
Redaktion: Matti Hesse
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 10. Januar 2023 an den Zeichner Heinrich Zille. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
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