Eine gute Bildung und ein selbst gewählter Beruf sind Anfang des 19. Jahrhunderts eine Frage der richtigen Geburt oder großzügiger Unterstützung. Das bekommt auch Heinrich Gräfe zu spüren. Der Handwerkersohn wird am 3. März 1802 im thüringischen Buttstädt geboren und 1809 dort eingeschult. Sein Vater ist einfacher Hutmacher und könnte Heinrich auf die Volksschule schicken. Dieses Pendant zur heutigen Grundschule ist damals für Kinder aus ärmeren Familien vorgesehen.
Die Volksschule hat allerdings einen schlechten Ruf: teilweise 120 Kinder in einem Klassenraum, Erziehungswillkür, Gewalt durch ungeeignete Schulmeister. Deshalb ermöglicht der Vater seinem Sohn den Besuch der Lateinschule. Zusätzlich erhält Heinrich Privatunterricht beim Pfarrer und kann so vorbereitet auch das Gymnasium in Weimar absolvieren. Für eine anschließende Ausbildung zum Lehrer fehlt jedoch das Geld.
Lehrer in Weimar, Rektor in Jena
Aber Heinrich Gräfe hat Glück. Johann Wolfgang von Goethe ist durch seine Arbeit als Minister oft in Buttstädt. Der Dichter bittet 1820 einen Freund, beim Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach für den jungen Mann vorzusprechen. Da Gräfes Eltern durch das preußische Zollsystem verarmt seien, brauche dieses begabte Landeskind eine Förderung.
Dadurch kann Gräfe in Jena Mathematik und Theologie studieren. Nach bestandener Prüfung arbeitet der 21-Jährige als Geistlicher an der Stadtkirche und als Lehrer am Gymnasium in Weimar. Wenig später wechselt er als Rektor an die Jeaner Stadtschule.
Eine Schule für alle als Ideal
Neben seiner Arbeit als Lehrer erwirbt Gräfe den Doktorgrad und beginnt an der Universität Jena als außerordentlicher Professor Pädagogik zu lehren. Aus seinen Vorlesungen entstehen später seine Handbücher zur "Allgemeinen Pädagogik" und zur "Deutschen Volksschule".
In seinen Schriften klingt eine pragmatische Version aufklärerischer Ideale an. Er plädiert für eine Schule für alle - unabhängig vom sozialen Stand. Damals ist das Schulsystem noch streng nach Ständen getrennt. Gräfe registriert, dass die aufkommende Industrialisierung die Gesellschaft verändert. In Fabriken entstehen Berufsfelder, für die eine gewisse Allgemeinbildung nötig ist.
Realschule bereitet auf neue Berufe vor
Gräfe richtet deshalb in seiner Stadtschule eine sogenannte Realklasse ein. Sie soll auf den künftigen Alltag des Handwerkers, Kaufmanns oder Künstlers vorbereiten. Als er 1842 als Rektor an die Bürgerschule in Kassel berufen wird, macht er daraus eine neuartige höhere Bildungsanstalt. Bisher gab es nur die niedere Volksschule und das Gymnasium als höhere Schule.
Gräfes neuer Bildungszweig - als Alternative zum humanistischen Gymnasium - ist die Realschule. Sie soll als praxisorientierte Mittelschule auf die neuen Berufe vorbereiten. Bei Gräfe stehen in der zur Realschule umbenannten Bürgerschule plötzlich Französisch, Englisch, Geografie, Zeichnen und Gymnastik auf dem Stundenplan.
Haft, Exil, Neuanfang
Die Revolution 1848/49 bringt eine breite Diskussion über das Schulwesen in Gang. Gräfe versucht politisch Einfluss zu nehmen und wird Landtagsabgeordneter in Hessen. Im Auftrag des Staatsministeriums arbeitet er den Entwurf eines neuen Schulgesetzes aus. Doch dann fällt er in Ungnade: Nach dem Erscheinen seiner Schrift "Der Verfassungskampf in Kurhessen" wird er wegen Majestätsbeleidigung zu einem Jahr Festungshaft verurteilt.
Um einer zweiten Haftstrafe zu entgehen, reist Gräfe ins Exil in die Schweiz. 1855 folgt er einem Ruf nach Bremen, wo er Rektor der Bürgerschule wird, die er bis zu seinem Tod am 22. Juli 1868 leitet. Auch dort führt er Neuerungen ein. Er lässt zum Beispiel den Sachkundeunterricht auf Englisch abhalten. Eine durchgreifende Reform des preußischen Schulsystems erlebt der Schulpionier aber nicht mehr.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Jana Magdanz
Redaktion: Gesa Rünker
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 22. Juli 2023 an Heinrich Gräfe. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
ZeitZeichen am 23.07.2023: Vor 40 Jahren: Der Bürgerkrieg in Sri Lanka beginnt