Die Angst ist ein steter Begleiter. Angst vor Wölfen und Bären, vor giftigen Schlangen. Vor Sandstürmen, Blitzschlag, sintflutartigen Regenfällen. Vor Cholera, Ruhr, Tuberkulose. Vor Überfällen durch die Indianer. Tatsächlich stirbt einer von zehn Erwachsenen, eines von fünf Kindern auf dem legendären Oregon Trail, in Nordamerika, Mitte des 19. Jahrhunderts.
65.000 Tote in den rund 25 Jahren des Westwärts-Exodus nach Aufbruch des ersten großen Trecks am 22. Mai 1843 - das macht ein Grab alle 50 Meter. Bis heute sind vielfach die Spurrillen der Planwagen erhalten. Und unzählige Grabsteine und Kreuze am Rande der Route.
Strapazenreicher Weg ins Glück
Warum tun sich die Menschen das an? 15 Kilometer am Tag zu Fuß, links und rechts neben den holpernden, von Ochsen gezogenen Planwagen her, fünf Monate lang. Durch mannshohes Gestrüpp, steile Böschungen hinauf und hinab durch tiefe Schluchten und über reißende Bäche, mit improvisierten Flößen.
Die Sonne sengt, oft ist es so staubig, dass alles mit Sand überkrustet ist, die Lippen platzen auf und sind voller Blasen. Wagenschmiere dient als Salbenersatz. Dann die gefürchteten Präriestürme mit Regengüssen, die binnen kürzester Zeit das Land zur Schlammwüste machen. Wer zu spät dran ist im Jahr, läuft Gefahr, im Schnee stecken zu bleiben.
Das Paradies in Oregon
Wer es aber schafft, wird belohnt für die Strapazen. Jenseits der Rockies liegen saftige grüne Wiesen, sind die Böden fett und die Wälder reich an Wild. Das Willamette Valley im heutigen Bundesstaat Oregon an der Grenze zu Washington gilt als eine der fruchtbarsten Agrarlandschaften der Welt. Für die Siedler im 19. Jahrhundert ist es das Paradies. Und ein Versprechen auf wirtschaftlichen Aufstieg und Wohlstand, das sich im bereits erschlossenen, industrialisierten Osten der USA für arme Bevölkerungsschichten kaum mehr einlösen lässt.
Der Mythos von der Eroberung des Wilden Westens
Wie viele Siedler über den Oregon-Trail nach Westen kommen, ist nicht ganz klar. Schätzungen schwanken zwischen 300.000 und 650.000. Die Zeit der Planwagentrecks ist schlagartig vorüber, als 1869 die erste transkontinentale Eisenbahnlinie vollendet wird. Jetzt braucht man statt fünf Monaten nur noch drei Wochen, um in den Westen zu gelangen.
Was bleibt, ist ein nationaler Mythos. Von der Eroberung des Wilden Westens durch weiße Siedler, von Abenteuer und Freiheit, Wagemut und Pioniergeist. Der Planwagen wird zur Ikone, die Lagerfeuerromantik zum Sehnsuchtsbild.
Im Dunkeln bleibt die Kehrseite des Drangs nach Westen. Die Tragödie der Vernichtung der indigen Urbevölkerung. Fünf bis sechs Millionen amerikanische Ureinwohner sind irgendwann bis auf wenige hunderttausend Menschen einfach weg.
Nicht alles Gold, was glänzt
Erst in den 1980er-Jahren lenkt eine kritische Geschichtsschreibung den Blick auf die Kehrseite der vermeintlichen zivilisatorischen Zähmung der Wildnis: ökologische Zerstörung, desolate Indianerreservate, verlassene Geisterstädte, tragisch gescheiterte Existenzen.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Almut Finck
Redaktion: David Rother
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 22. Mai 2023 an den Aufbruch des ersten großen Oregon-Trecks. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
ZeitZeichen am 23.05.2023: Vor 470 Jahren: Todestag von Francesco Doná, Doge aus der Blütezeit Venedigs.