Manche Frauen hatten nur eine einzige Contergan-Tablette in der Schwangerschaft eingenommen, mit schweren Folgen für ihre Kinder: Weltweit kommen zwischen 12.000 und 15.000 Babys mit Fehlbildungen zur Welt, die Hälfte von ihnen stirbt in den ersten Lebensmonaten. Bis der Zusammenhang klar ist, vergehen Jahre voller Ungewissheit und wüster Spekulationen zu den Ursachen. Mitunter geben Ärtze den Eltern die Schuld, oder auch den Ratschlag: "Vergessen Sie's einfach, machen Sie sich ein Neues", wie Mütter berichten.
Der Kassenschlager Contergan
Der Kinderarzt und Humangenetiker Widukind Lenz aus Hamburg forscht zu den Fehlbildungen. Als sich sein Verdacht erhärtet, dass ein Zusammenhang mit der Contergan-Einnahme in der Schwangerschaft besteht, fordert er den Hersteller Grünenthal auf, das Medikament sofort aus dem Handel zu nehmen. Doch Grünenthal hält am Kassenschlager Contergan fest. Allein in Deutschland werden 20 Millionen Pillen monatlich verkauft.
Der Prozess
Nach einer Zeitungsveröffentlichung nimmt Grünenthal Contergan im November 1961 aus dem Handel - vier Jahre nach der Markteinführung am 1. Oktober 1957. Es folgt ein harter Kampf die Betroffenen um Entschädigung und Anerkennung ihres Leids. 1962 stellt Karl-Hermann Schulte-Hillen Strafanzeige gegen Grünenthal. Sein Sohn kam mit Fehlbildungen zur Welt, seine Frau hatte in der Schwangerschaft nur eine Contergan-Tablette eingenommen. 1967 wird Anklage erhoben, der Prozess endet drei Jahre später mit einem umstrittenen Vergleich.
Die sehr späte Entschuldigung
Der Contergan-Hersteller und der Bund zahlen jeweils 100 Millionen Mark in eine Stiftung zur Entschädigung der Opfer. Im Gegenzug verzichten die Eltern auf weitergehende Ansprüche. Grünenthal kann die Summe steuerlich geltend machen, zahlt am Ende wohl nur rund 35 Millionen Mark. 1997 ist die Stiftungs-Summe aufgebraucht. Seitdem werden die Rentenzahlungen an die Opfer aus Steuergeldern bezahlt, bis heute beläuft sich diese Summe auf rund 1,8 Milliarden Euro.
2008 leistet Grünenthal eine freiwillige Zahlung von 50 Millionen Euro und zahlt über eine Stiftung Hilfsmittel für die Betroffenen. Erst 2021 entschuldigt sich der ehemalige Grünenthal-Chef Michael Wirtz umfänglich bei den Opfern.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Ariane Hoffmann
Redaktion: Gesa Rünker
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 1. Oktober 2022 an die Markteinführung des Schlafmittels Contergan. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
ZeitZeichen am 02.10.2022: Vor 85 Jahren: Das "Petersilien-Massaker" in der Dominikanischen Republik