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ARD Infonacht
22.03 - 06.00 Uhr ARD Infonacht
Wendeltreppe; Menschen schauen vom Fuß der Treppe nach oben

Wo beobachten Sie Benachteiligungen durch Klassenzugehörigkeit?

Die Herkunft hat in Deutschland immensen Einfluss darauf, welche Chancen sich im Lauf eines Lebens ergeben. Dafür gibt es einen Begriff, der sich immer stärker durchsetzt: Klassismus. Was genau steckt dahinter?

Portätfoto von Marlen Hobrack

Marlen Hobrack, Autorin

"Klassismus ist die Benachteiligung oder Abwertung einer Person aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit", so laute die einfachste Definition, sagt die Schriftstellerin und Publizistin Marlen Hobrack. Die Benachteiligung könne in verschiedenen Formen auftreten: Ausgrenzung, Beleidigung, abwertende Kommentare, abschätzige Blicke zum Beispiel. "Sie kann von Einzelnen ausgehen und sich gegen Einzelne richten sowie strukturell bedingt sein und systematisch erfolgen." Und der Klassismus habe eine Analogie zum Sexismus und zum Rassismus, denn auch da geht die Benachteiligung von wahrgenommenen äußerlichen Merkmalen aus. Im Gegensatz zu den anderen, hat sich der Begriff des Klassismus eher zögerlich durchgesetzt. Das hat auch damit zu tun, vermutet Marlen Hobrack, dass er einer zentralen gesellschaftlichen Idee zu widersprechen scheint: "Strukturelle Benachteiligung auf Basis der Klassenzugehörigkeit wird konsequent geleugnet im Mythos von der Leistungsbereitschaft, die sich lohnen wird." Das das nicht stimmen kann, zeigen ja viele Beispiele – Leistung lohnt sich eben nicht für alle. Klassismus habe eine Funktion und sei ein Mittel zum Zweck: "Klassistische Erzählungen von der Faulheit und Dummheit der Armen legitimieren deren schlechte Behandlung." Karl Marx hat in seiner Politischen Ökonomie eine grundlegende Bedingung des Kapitalismus beschrieben: Die Einen haben das Kapitel, die anderen liefern die Arbeit, da steckt der Klassismus möglicherweise schon drin. Der französische Soziologie Pierre Bourdieu hat die Gesellschaft mit der Analyse von Klassen und Klassenfraktionen ausgeleuchtet. Für ihn waren Klassen zwar auch, aber nicht nur ökonomische Konstrukte. Entscheidend für Ab- und Ausgrenzung ist demnach der Habitus: ein erlerntes Set von Präferenzen, nämlich Geschmack, Verhaltensmuster und Stil. Hier zeige sich "verkörpertes Klassenbewusstsein", sagt Marlen Hobrack.

Welche Rolle spielt die Klassenzugehörigkeit für die gesellschaftlichen Chancen und Möglichkeiten? Wie stehen Sie zum Klassismus?

Hörer:innen können mitdiskutieren unter 0800 5678 555 oder per Mail unter philo@wdr.de.

Redaktion: Gundi Große und Moritz Folk

Literaturhinweis: Marlen Hobrack: Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet. Hanser Verlag, 2022.

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