Wie die Schlafwandler taumelten dem Historiker Christopher Clark zufolge die europäischen Mächte im Juli und August 1914 in den Ersten Weltkrieg. Liest man die Briefe, die der britische Premierminister Herbert Henry Asquith an seine Freundin Venetia Stanley schrieb, scheint sich das zu bestätigen: Asquith nahm die Beziehung sehr viel mehr in Anspruch als die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo.
Ununterbrochen schrieb Asquith an Venetia, gleich, ob er im Fond seines Dienstwagens oder am Tisch seines Kriegskabinetts saß. Alle diese Briefe sind erhalten – die Venetias verbrannte er diskret nach Beendigung ihrer Beziehung. Dieses überlieferte und historisch archivierte Brief-Material ist das Material des auf halbfiktionale historische Thriller spezialisierte Autors Robert Harris.
Er brauchte nur noch wenig hinzu zu erfinden: Außer den Antworten Venetias hat er noch Geheimdienstagenten erfunden, der auf das Paar wegen des Verdachts auf Geheimnisverrat angesetzt wird. Denn der Premierminister teilt Venetia alles politisch und militärisch Wichtige mit, legt sogar Geheimdokumente in seine Briefe. Obwohl der Geheimdienst mitliest, kommt der Ministerpräsident nicht deswegen zum Sturz, sondern am Ende durch eine Intrige in seiner liberalen Partei. Der Beginn dieser Intrige spiegelt sich noch in Asquiths Briefen an Venetia, doch auch hier scheint er mehr an seiner Beziehung zu ihr als an allem anderen interessiert.
Um so größer seine Erschütterung, als Venetia sich von ihm trennt und ihm mitteilt, dass sie einen Minister aus seinem Kabinett heiraten wird. Statt aus dem historisch-politischen Drama zieht Robert Harris in diesem Roman den Thrill aus einer Liebesgeschichte, - das jedoch ebenso gekonnt wie in seiner übrigen Büchern.
Eine Rezension von Peter Meisenberg
Literaturangaben:
Robert Harris: Abgrund. Roman.
Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
Heyne Verlag, 2024
512 Seiten, 25 Euro