WDR: Herr Lauterbach, steht da eine Revolution in der Medizin an? Wie viel Potenzial steckt für Sie in Sachen KI im Bereich Medizin?
Mit dem Begriff Revolution muss man vorsichtig sein. Das ist ja ein Begriff, der inflationär verwendet wird, aber hier ist er tatsächlich angemessen. In der Medizin, und gerade in der Krebsmedizin, sind wir in den letzten Jahren immer besser geworden. Wir kommen jetzt an eine Grenze, wo wir viele Daten zur Verfügung haben, die wir eigentlich auswerten müssen, dies aber nicht können. Da sind wir auf KI angewiesen - ganz große Datensätze können wir eigentlich ohne KI gar nicht mehr auswerten. Das gilt zum Beispiel für ganz kleine Proteine, aber auch für Behandlungskonzepte und Patientengruppen. KI kann bestimmte Auswertungen machen, zu denen der Mensch nicht in der Lage ist. Ein Beispiel: Wir wissen, dass bestimmte Proteine in der Lage sind, Krebs zu bekämpfen. Wir wissen aber nicht, wie wir sie herstellen sollen. Mit KI können wir lernen, wie ein genetischer Code aussehen muss, damit wir diese Proteine auch herstellen können. KI kann Dinge, die der Mensch nicht kann. Das ist der Grund für die Revolution.
Gibt es auch ein Beispiel, das Sie als Arzt an KI in der Medizin so richtig begeistert?
Ja, mich begeistert zum Beispiel, dass es uns gelungen ist, mit KI die Proteinstruktur und den dahinterliegenden genetischen Code zusammenzuführen. Das ist früher händisch gemacht worden und hat für wenige Proteine Jahrzehnte gedauert. Jetzt konnten Hunderttausende Proteine mit KI innerhalb von wenigen Monaten ausgerechnet werden. Das ist unfassbar! Ein weiteres Beispiel: Seit 35 Jahren versuchen wir, Medikamente zu finden, die bei einer Methicillin-Resistenz noch wirken. Das sind besonders schwierig zu behandelnde Bakterien, bei denen unsere besten Antibiotika nicht funktionieren. Jetzt haben wir plötzlich einen sehr wichtigen neuen Hinweis. Was in 35 Jahren im menschlichen Gehirn nicht gelungen ist, ist der Harvard-Universität und dem Broad-Institut mit KI innerhalb weniger Monate gelungen. Und jetzt wird dort sehr intensiv an Antibiotika geforscht, die wir sonst nicht hätten. Das sind unfassbare Durchbrüche.
Glauben Sie, dass KI die Behandlung von Patientinnen und Patienten flächendeckend besser machen kann?
Ja! Das fängt schon damit an, dass auf der elektronischen Patientenakte all die Daten zur Verfügung sind, die ich brauche, um den Patienten gut behandeln zu können. Das ist heute die Ausnahme. Und ich kann darüber hinaus meinen Behandlungsplan abgleichen mit internationalen Leitlinien, mit dem, was andere Experten raten. Ich kann Telemedizin zuschalten. Es ist also eine ganz andere Versorgung. Auch in den abgelegensten Regionen kann ich so Spitzenmedizin praktizieren.
Glauben Sie als Arzt, dass KI irgendwann bessere Diagnosen stellen wird als der Arzt aus Fleisch und Blut?
Das ist jetzt schon der Fall. Bei bestimmten Erkrankungen, beispielsweise bei Melanomen oder Brustkrebs, ist es schon jetzt so, dass die Befundung besser ist, wenn der Arzt durch KI unterstützt wird. Und das sind ja erst die Anfänge. Jetzt ist es so, dass nur noch ganz besonders gut ausgebildete Ärztinnen und Ärzte besser darin sind, beispielsweise Lungen-Röntgenbilder zu interpretieren, als KI das kann. Der durchschnittliche Arzt hat jetzt schon Mühe, mit KI mitzuhalten. Die Systeme werden immer besser werden - somit wird die gesamte Medizin durch KI augmentiert, also verstärkt und verbessert.
Ist Ihnen denn in Zukunft eine digitale KI-Ärztin lieber als "Doktor Google", den gerade alle zu Hause fragen?
"Doktor Google" wird immer etwas beschränkt sein. Aber tatsächlich ist eine Ärztin, die auch KI einsetzt, besser als eine, die es nicht macht. Was gut ist: Wir sind in Deutschland dabei, das wirklich im großen Stil aufzubauen - mit der elektronischen Patientenakte, mit diesem System, das wir für Forschung aufbauen. Wir haben von Anfang an - weil wir so spät damit begonnen haben - die modernsten KI-Möglichkeiten mitgedacht. Das haben andere europäische Länder nicht, weil sie früher gestartet sind. Wir werden daher ein besonders modernes System zur Verfügung haben.
Wenn eine Patientin vor Ihnen sitzt und sagt: Die KI, Herr Doktor Lauterbach, hat mir doch das und das gesagt. Wie wird das für die Ärztinnen und Ärzte werden?
Das ist besser, als wenn die Patientin mir heute vorträgt, dass sie gegoogelt hat und glaubt, jetzt die beste Behandlung zu kennen. Ich kann erklären, wieso die KI-Ratschläge vielleicht für sie hier nicht in Frage kommen oder weshalb es sogar gute Ratschläge sind. Wir sind Ärzte und müssen auch damit leben, dass der Patient in Zukunft einfach viel mehr wissen wird. Viele Patienten werden ihre Befunde auf die elektronische Patientenakte bekommen und werden dann mit KI versuchen, die Befunde zu verstehen. Je mehr der Patient weiß, desto besser ist die Medizin.
Sie haben im Dezember ein Gesetz durch den Bundestag gebracht, das ermöglichen soll, dass die Patientendaten aller Deutschen in Zukunft für die Forschung mit KI genutzt werden können. Wie soll das funktionieren?
Die Befunde, die jetzt beispielsweise in den Praxen gesammelt werden – Laborbefunde, Röntgenbefunde, Operationsberichte, Genanalysen -, all diese Daten wandern in die elektronische Patientenakte und können dann von den behandelnden Ärzten genutzt werden, wenn der Patient das wünscht. Sie müssen dem Arzt erlauben, diese Info zu verwenden. Das werden die Menschen aber auch machen. Die gleichen Daten werden dann auch anonym zusammengetragen und für Forschung genutzt. Und in dieser Kombination haben wir einen Beschleuniger für bessere Forschung und bessere Behandlung.
Normalerweise sind wir Deutschen nicht begeistert, wenn unsere Daten gesammelt und gespeichert werden. Warum, glauben Sie, wird das bei der elektronischen Patientenakte anders sein?
Wenn ich als Patient diese Daten, die mir gehören, auf dem Smartphone haben kann, - da wird doch kaum jemand verzichten. Das werden die allermeisten wollen. Insbesondere, weil es eine bessere Behandlung ermöglicht. Bisher liegen die Daten in den Praxen oder auf den Servern der Krankenhäuser. Jetzt können Sie mit diesen Daten arbeiten und werden besser behandelt.
Ist der Arzt Karl genauso begeistert wie der Gesundheitsminister Lauterbach von KI in der Medizin?
Ich finde aus beiden Perspektiven, als Wissenschaftler und auch als Gesundheitsminister, dass hier eine neue Zeit anbricht. Wir werden eine bessere Medizin bekommen, wir brauchen sie aber auch. Man muss ehrlich sein: Deutschland hat ein superteures Gesundheitssystem, das teuerste in Europa. Wir sind aber, was die Lebenserwartung und die Behandlungsergebnisse angeht, nur Mittelmaß. Und wenn wir bei den Behandlungsergebnissen an die Spitze kommen wollen, dann brauchen wir diese neuen Möglichkeiten.
Das Interview führte Catherine Vogel