Die Silvesternacht und der Innenminister
WESTPOL. 08.05.2016. UT. DGS. Verfügbar bis 08.05.2099. WDR.
Wie die Räumung an Silvester wirklich ablief
Stand: 09.05.2016, 09:32 Uhr
Der Polizeieinsatz in der Silvesternacht vor dem Kölner Hauptbahnhof verlief dramatischer als bisher bekannt. Bislang unter Verschluss gehaltene Polizei-Videos liegen dem WDR-Magazin WESTPOL vor. Sie zeigen, wie riskant die Räumung des Bahnhofsvorplatzes mit nur rund 80 Bereitschaftspolizisten war.
Von Rainer Kellers
Die Aufnahmen der Polizeikameras beginnen am Silvesterabend kurz vor 23:30 Uhr. Auf dem Bahnhofsvorplatz herrscht das Chaos: Raketen zischen in den Himmel, Funken regnen auf Menschen herab. Böller knallen im Sekundentakt. Überall ist Gejohle und Geschrei. Hunderte Menschen stehen dicht gedrängt. Es sind vor allem junge Männer, die meisten davon südländischen Aussehens. Auf der Domplatte weiter oben halten sich ebenfalls Männergruppen auf. Raketen fliegen hin und her. Panische Schreie sind zu hören.
Es ist diese Situation in der Kölner Silvesternacht, die den Einsatzleiter der Kölner Polizei dazu bringt, den Bahnhofsvorplatz räumen zu lassen. Es habe die Gefahr einer Massenpanik bestanden, sagte der erfahrene Polizist Mitte März vor dem Untersuchungsausschuss des Landtags. Er habe die Beamten der Bereitschaftspolizei am Dom zusammengezogen und um 23:40 Uhr mit der Räumung begonnen. Eine riskante Entscheidung, wie Polizeivideos zeigen, die dem WDR jetzt zugespielt wurden.
Die Räumung mit rund 80 Polizisten erscheint riskant
Das Videomaterial zeigt zunächst das, was über die Räumung bekannt ist: Die Einsatzpolizisten, erkennbar an ihrer Schutzkleidung mit den weißen Helmen, bilden eine Kette am oberen Ende der Domtreppe. Von dort aus werden die Menschen auf dem Vorplatz allmählich Richtung Nordseite des Platzes abgedrängt. Kurz vor Mitternacht ist der Platz weitgehend geräumt und die meisten Zugänge abgeschirmt.
Was man aber auch sieht: Den Bahnhofsvorplatz mit lediglich rund 80 Bereitschaftspolizisten zu räumen, erscheint riskant. Mehrfach stockt die Räumung. Am oberen Ende, dort, wo die Treppen von der Domplatte zum Vorplatz hinabführen, steht nur eine Handvoll Beamter einer dicht gedrängten Masse von Leuten gegenüber. Viele sind betrunken, es gibt Rangeleien. Eine junge Frau ist zu hören, die lautstark dagegen protestiert, "angefasst" zu werden. Immer wieder durchbrechen Personen die Sperre und laufen über den Platz. Der Einsatzleiter lässt durchgeben, die notwendige Polizeisperre am linken Ende der Domtreppe könne man einfach "mit zwei Mann nicht halten". Man sieht deutlich: Es sind zu wenige Beamte im Einsatz.
Überforderte und gefährdete Polizei
Im Ausschuss hatte der Einsatzleiter gesagt, die Räumung sei mit den vorhandenen Kräften machbar gewesen. Das sieht Bernd Liedtke, pensionierter Polizeidirektor aus Hagen, anders. Im Interview mit dem WDR-Politmagazin Westpol sagt der ehemalige Polizist, der die Verhältnisse in Köln gut kennt, die Polizei sei überfordert gewesen. Und sie war selbst gefährdet. Für die Räumung hätte man mehr Einsatzkräfte anfordern müssen. Liedtke versteht nicht, warum der Einsatzleiter das nicht gemacht hat. Das sei ein persönliches Fehlverhalten gewesen. Allerdings hätte einen solchen Einsatz auch ein Beamter des höheren Dienstes leiten müssen.
Liedtke bemängelt auch, dass die Räumung des Vorplatzes ohne jede Lautsprecherdurchsage durchgeführt wurde. Tatsächlich sind auf den Videos keinerlei Durchsagen zu hören. Die Menschen reagieren zum Teil überrascht, zum Teil auch aggressiv. Für die Obfrau der Piraten im Untersuchungsausschuss, Simone Brand, sind die fehlenden Durchsagen ein Knackpunkt bei der Räumung.
Eine Tür zum Bahnhof blieb geöffnet
Ein zweites Problem sind für Brand die "massiven Stauungen", die es während der Räumung vor allem an den geschlossenen Türen zum Bahnhof gegeben hat. Auf den Videos ist deutlich zu sehen, wie sich die Menge vor allem in der Vorhalle des Bahnhofs drängelt. Ob diese Stauungen womöglich Übergriffe wie Taschendiebstähle und sexuelle Attacken begünstigt haben, ist unklar. Die Videos geben darauf keine schlüssige Antwort. Es ist laut Brand auch keine Häufung von Opfer-Anzeigen in der fraglichen Zeit festzustellen. Was man auf den Videos aber schon sieht: Anders als bislang bekannt, ist eine der Türen des Haupteingangs während der Räumung offen geblieben. Und genau an dieser Stelle staut sich die Menge. "Das sollte nicht so sein", sagt Brand dem WDR. Für FDP-Obmann Marc Lürbke ist der Einsatz ein weiterer von zahlreichen Ungereimtheiten der Silvesternacht. Fehler seien an verschiedensten Stellen gemacht worden, sagt er bei Westpol.
Um 0:15 Uhr hebt die Polizei die Sperrung des Vorplatzes wieder auf. "Die Kerngefahr einer Massenpanik war gebannt", sagte der Einsatzleiter vor dem Ausschuss. Heute weiß man: Die schockierenden Übergriffe der Silvesternacht fingen jetzt erst richtig an. Welche Rolle dabei die riskante Räumung des Vorplatzes spielte, muss noch geklärt werden. Vor dem Ausschuss sind die Videos voraussichtlich erst Ende Mai Thema.