Es sind Alltagssituationen, die in den Wochen nach Köln verstören. Ein Deutsch-Serbe, in den Siebziger Jahren in Nordrhein-Westfalen geboren, erzählt, dass er im Zug im Ruhrgebiet auf einmal auffällig oft von Bundespolizisten misstrauisch gemustert und sein Personalausweis kontrolliert wird. Ein arabischer Taxifahrer in Bochum lehnt ein Trinkgeld von einem Deutschen ab - aus Verbitterung über rassistische Beschimpfungen durch Deutsche. Ein Polizeiauto, das im Zeitlupentempo an der Promenade im Düsseldorfer Medienhafen Patrouille fährt. Wen bewacht dieser Streifenwagen eigentlich, fragt man sich. An diesem eiskalten Winternachmittag ist kaum ein Mensch am Rhein unterwegs. An vielen Ecken im Land ist jetzt mehr Polizei zu sehen.
Und dann sind da die öffentlichen und medialen Debatten. Nach Ansicht einiger Integrations- und Sozialforscher geht es längst nicht allen, die auffällig laut und aggressiv ihre Stimme erheben, um eine Aufklärung der Straftaten in der Silvesternacht: Es geht einigen ganz generell um "die Flüchtlinge" und um "kriminelle Ausländer". Hacı Halil Uslucan, Leiter des Essener Zentrums für Türkeistudien, beobachtet die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung. "Bei vielen türkeistämmigen Menschen in NRW dominieren nach Köln zwei Gefühle: Zum einen wird verdammt, was in der Silvesternacht an Straftaten verübt wurde. Zum anderen besteht die Sorge, mit den Tätern in einen Topf geworfen zu werden", sagt der Integrationsforscher. In einigen Medien und durch bestimmte Politiker werde "sehr pauschal Stimmung gemacht".
Männlich, muslimisch, kriminell?
"Der männliche, muslimische, orientalische Jugendliche wird in eine kriminelle Ecke gestellt. Unter dieser unzulässigen Zuschreibung, teils auch von bekannten Publizistinnen wie Alice Schwarzer, müssen viele völlig Unschuldige leiden", sagt Uslucan weiter. Teilweise würden nun in der Öffentlichkeit "Parallelgesellschaften geradezu inszeniert". Solche Stereotypen seien "gefährlich". Uslucan habe "aber die Hoffnung, dass sich die Wogen wieder glätten und wir zu einer sachlichen Diskussion zurückkehren über Integration, Chancengleichheit und die Ursachen von Kriminalität".
Begriff "Maghreb-Viertel" noch nie gehört
Uslucan nennt als Negativbeispiel die Kommentierung der Polizeirazzia in Düsseldorf-Oberbilk. Auch andere Menschen, die in Düsseldorf leben, wunderten sich über die Wortwahl der Polizei wenige Tage nach Köln. Im Polizeibericht war von "Maghreb-Viertel" die Rede. "Wir leben seit vielen Jahren in Oberbilk. Den Begriff 'Maghreb-Viertel' habe ich vor der Polizeiaktion noch nie gehört", sagt Oliver Ongaro, der in der Landeshauptstadt als Streetworker mit Obdachlosen arbeitet. Außerdem ist Ongaro in der Flüchtlingshilfe sowie bei den Protesten gegen die zahlreichen "Pegida"-Aufmärsche in der Stadt engagiert.
Dass es in Oberbilk Probleme mit Diebstählen gab, sei ja auch schon länger bekannt. Schon vor Jahren habe man mehr Sozialarbeiter für den Stadtteil gefordert - ohne Erfolg. Ongaro wehrt sich gegen eine "Kriminalisierung der Menschen in Oberbilk". Man sehe im Stadtteil viel Armut. "Wir sehen Menschen unterschiedlicher Herkunft, die keine Arbeit haben, die schon tagsüber auf den Plätzen Bier trinken. Wir sehen Drogenabhängige", heißt es in einer Mitteilung die Düsseldorfer Flüchtlingsinitiative "Stay", bei der Ongaro mitarbeitet. "Alles das gehört zu unserem Viertel und wir wissen, dass das Leben vielen Leuten hier übel mitspielt. Wir haben nicht auf alle Probleme eine Antwort."
Hass auf den Straßen und im Netz
Wenige Tage nach den Silvester-Übergriffen marschierten in Köln rechtsextreme Hooligans auf. Ausländisch aussehende Menschen wurden verprügelt. Im Netz ergießt sich tagtäglich der Hass auf Flüchtlinge: "Willkommenskultur" und "Multikulturalität" sind für die teils mit Klarnamen postenden Hasser fast schon Schimpfworte. Wer zur Besonnenheit mahnt, wird bei Facebook und Twitter als "Volksverräter", "Lügenpresse" oder "Gutmensch" beschimpft. Von einem "Hype" der Hetz-Postings sprach LKA-Staatsschutz-Leiter Klaus-Stephan Becker bereits eine Woche nach der Silvesternacht.
"Rassistischer Bodensatz"
Woher kommt der Hass? Für Wissenschaftler ist das Phänomen nicht neu. Margarete Jäger vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) berichtet, dass sie und ihre Kollegen bereits seit Jahrzehnten unter anderem über den Alltagsdiskurs in Deutschland zu Einwanderung und Flucht forschen. "Anfang der Neunziger Jahre - noch vor den Brandanschlägen von Solingen und Mölln - haben wir zum Beispiel eine Studie mit dem Titel 'BrandSätze" veröffentlicht, in der rassistische Grundeinstellungen deutlich wurden. Man muss leider sagen, dass da bis heute im Großen und Ganzen eine Kontinuität zu erkennen ist", sagt Jäger. Es gebe "einen rassistischen Bodensatz in dieser Gesellschaft, der durch bestimmte Ereignisse und auch durch mediale und politische Kampagnen hochgespült werden kann". Die Sprach- und Sozialforscherin sieht aber auch Unterschiede zur Asyldebatte der Neunziger: "Heute gibt es eine imposante Unterstützung für Flüchtlinge, es sind viel stärker als vor 20 bis 25 Jahren Gegenstimmen zu hören gegen Rassismus."
Erneute Zuspitzung nach Köln
Wissenschaftlerin Jäger beobachtet eine gefährliche Entwicklung. "Seit spätestens 2014 - teilweise aber auch bereits vorher zum Beispiel mit der Sarrazin-Debatte - sehen wir eine gesellschaftliche Zuspitzung. Offen rassistische Positionen werden von Pegida und AfD wieder verstärkt in die Öffentlichkeit getragen", sagt die Forscherin. Ihr Eindruck sei, "dass diese Zuspitzung seit den Ereignissen von Köln noch stärker wahrzunehmen ist". Jäger hält es "für sehr problematisch, dass jetzt ganz offensiv Anstrengungen aus den letzten Jahrzehnten, Zuwanderer etwa in der Kriminalitätsstatistik nicht zu diskriminieren, wieder rückgängig gemacht werden sollen". Besorgniserregend sei "auch, dass das Gegenhalten von regierenden Politikern nachzulassen scheint". Dies erkenne man unter anderem, so Jäger, an den sehr schnellen Asylrechts-Verschärfungen sowie an einer "zunehmenden Rhetorik gegen 'kriminelle Ausländer', die mittlerweile nicht mehr nur von AfD oder CDU/CSU, sondern auch von einigen SPD-Politikerin betrieben wird".