"Kassandra in Mogadischu" von Igiaba Scego

Stand: 30.10.2024, 07:00 Uhr

Die italienische Schriftstellerin Igiaba Shego ist die Tochter somalischer Flüchtlinge. In ihrem erfahrungssatten Roman erzählt sie präzise und eindringlich davon, was Krieg und Migration mit und aus Menschen machen. Eine Rezension von Holger Heimann.

Igiaba Scego: Kassandra in Mogadischu
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull.
S. Fischer Verlage, 2024.
416 Seiten, 26 Euro.

"Kassandra in Mogadischu" von Igiaba Scego Lesestoff – neue Bücher 30.10.2024 05:17 Min. Verfügbar bis 30.10.2025 WDR Online Von Holger Heimann

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Kriege enden nicht mit dem letzten Schuss. Sie dauern länger, jedenfalls für die Betroffenen, denn Kriege graben sich ein in die Körper und in die Köpfe der Menschen. Die 1974 in Rom als Tochter von somalischen Flüchtlingen geborene Igiaba Scego ist eine Spezialistin für derartige Verletzungen und Langzeitwirkungen. 

Zitat Scego:
"Mein ganzes Leben versuche ich, die Geschichte des Krieges zu erzählen. Es ist hart. Denn Somalia war eines der Länder, das den größten Albtraum am Ausgang des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts erlebt hat."

In ihrem aktuellen Roman erzählt sie präzise und eindringlich davon, wie der Bürgerkrieg nach Kolonialzeit und Diktatur das Zusammenleben einer Familie zerstört, wie diese Familie zerrissen und in alle Weltgegenden verstreut wird. Es ist Igiaba Scegos eigene Familie, es ist ihre eigene Geschichte. Ausgebreitet wird diese Geschichte im Brief einer Frau, die mit der Autorin weitestgehend identisch ist, an ihre in Montreal lebende Nichte. Die Verfasserin hält körperliche und seelische Not im Bild einer Krankheit fest, die von Generation zu Generation weitergegeben wird.

"Jirro heißt auf Somali buchstäblich 'Krankheit', jedes Wörterbuch liefert diese Übersetzung. Doch für uns ist Jirro ein weiter gefasstes Wort. Es benennt unsere Verletzungen, unseren Schmerz, unseren posttraumatischen, kriegsbedingten Stress. Jirro ist unser gebrochenes Herz. Unser Leben auf der Kippe zwischen Hölle und Gegenwart. Wir sind diasporische Wesen, schwebend im Wind, entwurzelt von einer zwanzigjährigen Diktatur, von einem der verheerendsten Kriege auf dem Planeten Erde."

Bereits in ihrem 2003 erschienenen Romandebüt zeichnete Igiaba Scego die Biografie ihrer Mutter nach, jedoch mit dem Schwerpunkt auf der Zeit vor der Flucht 1970 nach Italien. Jetzt ist sie zu ihr zurückgekehrt. Anfang der 90er Jahre wird die resolute Frau während eines Aufenthalts in Somalia vom Bürgerkrieg verschluckt. Zwei Jahre bleibt die Familie in Rom ohne Lebenszeichen von ihr.

Die Erzählerin erinnert sich, wie sich Unsicherheit, Angst und Sorge förmlich in ihren Körper eingeschrieben haben, während sie bang auf Nachrichten von der Vermissten wartete.

"Einen großen Teil meiner Zeit verbrachte ich mit zwei Fingern in der Kehle im Bad. Mit einem spöttischen, von Teer geränderten Grinsen. Ich kniete mich vor die Kloschüssel, wie Christen sich in der Kirche vor das Kruzifix knien, und begann mit meinem heiligen Ritual. Meinem ewigen Jirro. Es ging darum, möglichst viel von mir aus mir herauszuholen. Das ganze Mittagessen, das Frühstück, die Snacks. Die hässlichen Gedanken, die Reisbällchen, die Minipizzen und die Waffen."

Die Gewaltgeschichte Somalias und die Beziehung zu Italien, Krieg und Flucht, aber auch der Wunsch nach Zusammenhalt und Nähe – das waren und sind die Stoffe dieser Schriftstellerin von Anfang an. In vorherigen Büchern habe sie sich jedoch nur an der Oberfläche bewegt, bekennt Igiaba Scego. Jetzt geht sie in die Tiefe. Und das heißt auch, offen und schonungslos von sich selbst zu erzählen, vom eigenen Leiden.

Zitat Scego:
"Als ich Schriftstellerin wurde, habe ich begriffen, dass es meine Mission ist, die ganze verborgene Geschichte zu erzählen, also die große Geschichte, das heißt Kolonialismus, Migration – und auch die verborgene Geschichte meiner Familie. Wir reden zwar viel über den Krieg, aber wir bleiben meist an der Oberfläche. Traumata sind nichts, worüber man gern spricht. Für mich war es sehr befreiend, dieses Buch zu schreiben. Ich hoffe, dass es für andere Menschen nützlich ist."

Erinnern und aufschreiben – für Igiaba Scego sind dies Wege der Heilung. Auch davon erzählt der Roman. Der Brief an die ferne Nichte ist bestimmt vom Wunsch, die Familiengeschichte zu bewahren und weiterzugeben – und so auch die verschiedenen Generationen miteinander ins Gespräch zu bringen. "Wir sind keine Opfer", heißt es an einer Stelle. Es ist einer der zentralen Sätze dieses erfahrungssatten Buches. "Kassandra in Mogadischu" ist ein Roman, der Krieg und Drangsal schildert, der jedoch vor allem mit Verve das Überleben und den Zusammenhalt einer Familie feiert.