Arztbesuche in Deutschland
Krank sein ohne Krankenschein
Stand: 16.02.2015, 16:55 Uhr
Mediziner der Universität Magdeburg haben vorgeschlagen, die Regeln für Krankschreibungen zu lockern. Für die Dauer von bis zu einer Woche sollten Beschäftigte sich selbst krankmelden können. Grund für die ungewöhnliche Idee: Die Deutschen gehen zu oft zum Arzt, die Praxen sind überfüllt.
Der Vorschlag der Mediziner aus Sachsen-Anhalt zielt auf die Entlastung von Ärzten ab, erklärt Dr. Wolfram Herrmann, Leiter des Magdeburger Forscherteams. Eine Studie habe ergeben, dass viele Arztbesuche nur erfolgen, um die ärztliche Bescheinigung zur Krankschreibung zu erhalten. Falle ein Teil davon weg, könnten die Hausärzte sich besser um die Behandlung von Patienten mit langwierigen Erkrankungen kümmern.
Rund zehn Arztbesuche pro Jahr
Nur die Ungarn gehen öfter zum Arzt als die Deutschen
Hintergrund ist: Mit durchschnittlich 9,7 Arztbesuchen jährlich liegen die Deutschen im europäischen Vergleich weit vorne. Übertroffen werden sie nur von den Ungarn, die 11,8 Mal im Jahr einen Mediziner aufsuchen. Franzosen dagegen reichen 6,8 Arztbesuche, Norwegern sogar 5,2 - und zwar ohne dass ihr Gesundheitszustand schlechter wäre als der der Deutschen.
Rezepte, Verlaufskontrollen, Kurzzeitkrankschreibungen
Jens Spahn, Vorsitzender des Bundesfachausschusses Gesundheit und Pflege der CDU, zeigt sich für den Vorschlag aus Magdeburg aufgeschlossen: "In Deutschland ist die Zahl der durchschnittlichen Arztbesuche auch deswegen so hoch, weil Patienten nur für Rezepte, Verlaufskontrollen oder auch Kurzzeitkrankschreibungen immer zum Arzt müssen." Das bestätigt auch Dr. Thomas Nasser, Allgemeinmediziner aus Mettmann: "Viele Patienten, die zu mir kommen, brauchen eine Krankmeldung für den Arbeitgeber."
Arbeitgeber sehen keinen Handlungsbedarf
Die Arbeitgeber sehen dagegen keinen Handlungsbedarf. "Die gesetzlichen Regelungen zu Krankschreibungen haben sich in Deutschland insgesamt bewährt", erklärte die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (DBA). Arbeitgeber verlangten in vielen Fällen erst ab dem vierten Krankheitstag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, bis zu drei Tage könnten Arbeitnehmer also auch ohne "Krankenschein" zu Hause bleiben.
Ab dem 4. Krankheitstag brauchen deutsche Arbeitnehmer einen "Krankenschein"
Thomas Nasser hat andere Erfahrungen gemacht: "Die meisten meiner Patienten brauchen die Krankmeldung schon nach ein oder zwei Tagen. Damit nehmen sie uns sehr viel wichtige Zeit weg, die wir gut für die Behandlung von ernsthaften Erkrankungen gebrauchen könnten."
Gute Erfahrungen in Norwegen
Der Magdeburger Projektleiter Herrmann würde die Ausweitung auf fünf Tage gerne in Pilotprojekten testen. Einen Versuch sei es wert. "Es geht um Patienten, die nur wegen der Krankschreibung zum Arzt gehen, also über eine leichte Erkältung oder Übelkeit klagen. Alle, die sich wirklich schlecht und krank fühlen, sollen natürlich ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen." Die Norweger hätten damit gute Erfahrungen gemacht: "Bei unseren skandinavischen Nachbarn ist die eigenständige Krankmeldung in einem Großteil der Unternehmen bei Ausfällen von bis zu acht Tagen am Stück und höchstens 24 Tagen im Jahr möglich", weiß der Mediziner. Dennoch sei die Zahl der Fehltage nicht nach oben geschnellt. Im Gegenteil: Die die Zahl der Fehltage der Arbeitnehmer sei in Norwegen seit Jahren rückläufig.
Sein Kollege Thomas Nasse aus Mettmann würde eine Lockerung der Regel begrüßen. "Ich würde bei vier Tagen die Grenze setzen und ich hätte nichts dagegen, wenn es so gehandhabt würde." Insgesamt könnten also alle davon profitieren: Arbeitgeber, Arbeitnehmer, aber auch die Hausärzte und das medizinische System.
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