Fritz Unterberg, Chef der Polizei in Steinfurt, war während der Geiselnahme in Gladbeck im Führungsstab der Recklinghauser Polizei eingesetzt. Die Behörde hatte nach dem Überfall der Bank in Gladbeck die Einsatzleitung übernommen.
WDR.de: Herr Unterberg, die Medien beschäftigen sich in diesen Tagen wieder sehr intensiv mit der Geiselnahme von Gladbeck. Welche Bilder sind Ihnen von diesen drei Tagen im Ausnahmezustand am stärksten in Erinnerung?
Fritz Unterberg: Es gibt zwei Bilder, die bei mir besonders stark haften geblieben sind. Einmal das Bild der weiblichen Geisel, die von Degowski den vorgespannten Revolver unter das Kinn gehalten bekommt. Und das von der blutüberströmte Leiche des 15-jährigen Jungen. Als die Information herein kam, dass der Junge in Bremen erschossen wurde gab es eine tiefe Betroffenheit und ein Innehalten. Darauf mussten wir aber wiederum gleich reagieren – und uns fragen: Was bedeutet es für den Fortlauf der Ereignisse, wenn einer der Täter einen Mord begangen hat? Das sind Aspekte in der Gefahrenbewertung, die von zentraler Bedeutung sind. Unsere Erfahrung ist nämlich, dass die Hemmschwelle weiter sinkt, wenn auf einen Menschen geschossen wurde – und damit hatte sich das Risiko für alle Beteiligten erhöht.
WDR.de: Unter welchen Bedingungen haben Sie damals gearbeitet?
Unterberg: Es war nicht so, dass da eine kleine Gruppe drei Tage lang zusammengehockt hat und irgendwann völlig übermüdet war. Dann wären wir ja nicht mehr in der Lage gewesen, die Informationen angemessen zu bewerten. Wir haben in Zwölf-Stunden-Schichten gearbeitet. Mehr kann man auch nicht verantworten, spätestens nach zwölf Stunden sollte man den Löffel fallen lassen - auch wenn man emotional lieber weiter machen würde.
WDR.de: Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski waren vorher eher als Vorstadtgauner bekannt.
Unterberg: Mit diesem Bankraub waren die beiden tatsächlich in eine neue Dimension eingestiegen. Die Planungsqualität des Raubs war aber nicht besonders hoch. Deshalb waren beide auch überfordert und haben versucht, das durch ein sehr forsches Auftreten zu kompensieren. Im Grunde haben sie sich die ganze Zeit von einer Entscheidung zur anderen gehangelt. Diesen Eindruck hatte ich.
WDR.de: Was bedeutete das für die Polizei?
Unterberg: Wenn eine professionelle Planung erkennbar gewesen wäre - mit einem roten Faden, der einigermaßen konsequent beachtet worden wäre - wären die Verhaltensweisen sicher besser zu prognostizieren gewesen.
WDR.de: Wie beurteilen Sie die Arbeit der Polizei rückblickend?
Unterberg: Die Polizei war vor Gladbeck auf solche Geiselnahmen nicht so gut vorbereitet wie nach Gladbeck. Das muss man deutlich sagen.
WDR.de: Gladbeck markierte also einen deutlichen Einschnitt.
Unterberg: Ja, Gladbeck war eine Zäsur. Aber in dieser Dimension habe ich das erstmal nicht erkannt. Nach drei Tagen waren alle Beteiligten ziemlich platt. Danach haben wir die Ereignisse noch mal sehr dezidiert aufbereitet. Unter anderem gab es ja auch Untersuchungsausschüsse in Nordrhein-Westfalen.
WDR.de: Und was hat sich geändert?
Unterberg: Wir haben erkannt, dass man die Behörden, die mit solchen gefahrenträchtigen Ereignissen konfrontiert werden, besser darauf vorbereiten muss. Deshalb wurde die Arbeit auf sechs Behörden konzentriert. Vor Gladbeck mussten sich 18 Kreispolizeibehörden in NRW auf solche Ereignisse einstellen. In den nun zuständigen Behörden sind sogenannte Ständige Stäbe eingerichtet worden, mit einer Kernmannschaft von rund zehn Beamten, die sich intensiv mit der Frage der Einsatzvorbereitung auseinandersetzen. Dieser Stab kommt bei herausragenden Ereignissen wie Geiselnahmen, großen Demonstrationen oder auch bei Ereignissen wie einem Weltkirchentag in Köln zum Zug. Auch um die Frage, wann die Einsatzverantwortung einer Behörde an eine andere abgegeben wird, hat man sich gekümmert. Es war im Fall Gladbeck ja so, dass die Führung von Recklinghausen nach Bremen ging und später von Recklinghausen nach Köln. Das ist professioneller ausgestaltet worden, da mussten wir noch besser werden. Und noch ein Grundsatz ist viel stärker hervorgehoben worden: Möglichst am Tatort selbst, also am ersten Ereignisort, zu versuchen, die Geiselnahme aufzulösen.
WDR.de: Das heißt, so etwas wie Gladbeck könnte nicht mehr passieren?
Unterberg: Die Phänomene verändern sich ohnehin. Beispielsweise haben wir in den letzten Jahren einen deutlichen Rückgang an Geiselnahmen gehabt. Dafür hatten wir vermehrt das Phänomen Amok. Da muss man aber anders vorgehen. Bei der Geiselnahme gibt es eine Phase, bei der sich Täter und Geiseln erst einmal stabilisieren. In dem Moment sind keine unmittelbaren Aktionen von der Polizei erforderlich. Bei einer Amoktat ist das anders: Wenn man den ersten Schuss gehört hat, hat das Morden begonnen. Das heißt: Man muss unmittelbar aktiv werden, um die gefährdeten Personen zu schützen.
WDR.de: Die Medien haben im Fall Gladbeck eine mehr als fragwürdige Rolle gespielt. Wie bewerten Sie die journalistische Arbeit im Nachhinein?
Unterberg: Die Medien haben die polizeiliche Arbeit deutlich erschwert. Es gab Situationen, bei denen ich sagen muss: Da habe ich immer noch die Faust in der Tasche. Das Verhalten Einzelner war in hohem Maße gefahrensteigernd für alle Beteiligten. So stelle ich mir professionellen Journalismus nicht vor. Ich denke aber, die Medien haben auch dazu gelernt – wobei ich aus meiner Wahrnehmung feststellen muss, dass das nur in Teilbereichen so ist.
Das Interview führte Nina Giaramita