Eines Tages kam Steffen von der Schule nach Hause und seine Mutter öffnete ihm mit ernstem Blick die Tür. "Ich dachte, ich habe etwas ganz Schlimmes gemacht", sagt der Zehnjährige. Damit lag er komplett daneben: Denn gerade eben hatte seine Mutter den Anruf bekommen, dass die gemeinsame Arbeit von ihm und seiner Schwester den ersten Platz beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten gewonnen hat. Die Arbeit ist 47 Seiten stark und wenn Steffen darüber spricht, redet er immer von "unserem Buch". Der Titel: "Der Fall Contergan: Tragödie - Katastrophe - Skandal?". Der Preis wird alle zwei Jahre bundesweit ausgeschrieben, diesmal lautete das Thema: "Skandale in der Geschichte".
Interviews mit Contergan-Geschädigten
Monatelang haben er und seine elfjährige Schwester Enrica für dieses Buch geschuftet: Statt am Samstag lange auszuschlafen, sind sie zur Bibliothek gefahren, jeden Tag haben sie viele Seiten gelesen und immer wieder Fragen gestellt. Sie haben ein halbes Jahr lang am Freitagnachmittag an der Geschichts-AG in ihrer Schule, dem Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasium in Münster teilgenommen. Steffen hat gelernt, mit zehn Fingern zu tippen und Enrica hat sich trotz gebrochenen Arms nie von den Eltern helfen lassen. Aber die vielleicht größte Hürde war die Überwindung der eigenen Angst. Das Geschwisterpaar hat sich in seiner Forschungsarbeit nicht bloß auf die Zusammenfassung von historischen Quellen beschränkt, sondern selbst mit Zeitzeugen gesprochen. "Wir waren am Anfang ein bisschen scheu", erinnert sich Steffen. Doch dann fassten die beiden den Mut, Menschen anzusprechen, die durch das Arzneimittel Contergan geschädigt wurden. So konnten sie eine Frau interviewen, die mit einer starken Behinderung leben muss.
Die Gegenseite: Pharmakonzern Grünenthal
Dazu kam ein Anruf bei der Gegenseite - der Firma Grünenthal, die das Medikament von 1957 bis 1961 in Deutschland vertrieb. "Wir fanden das nur fair, dass sich die Firma auch äußern sollte." In einem Forschertagebuch hielten die beiden Kinder fest, was sie im Recherchezeitraum erlebt haben:
"Ich konnte danach nicht sofort einschlafen"
Enrica und Steffen haben sich bei dem Projekt wenig gestritten, sagt Steffen. Jeder hatte sein Spezialgebiet: Enrica war besonders gut beim Schreiben, Steffen hat viel am Computer gearbeitet und eine Mind-Map, eine Übersichtsgrafik erstellt. Mittlerweile besucht seine Schwester mit einem Stipendium ein Gymnasium für Hochbegabte in Mecklenburg-Vorpommern. Während der Arbeit gab es aber immer wieder harte Verhandlungen mit den Eltern. Steffen beispielsweise darf eigentlich nur eine halbe Stunde pro Tag am Computer und im Internet arbeiten. Kurz vor Abgabe wurde dieses Zeitkontingent ziemlich erweitert, sodass auch mal spätabends gearbeitet werden durfte. "Ich konnte danach nicht sofort einschlafen", erinnert sich Steffen. "Ich habe noch viel darüber nachgedacht."
"Wir sind völlig pleite"
Ein weiteres Thema, das die Nachwuchs-Forscher umtrieb, war die Frage, wie sie ihre Forschung finanzieren könnten. "Wir fanden es wichtig, dass es die Arbeit der Kinder ist und bleibt", erklärt Mutter Eva-Maria Wedig. Daher mussten die Kinder Mahngebühren aus der Bücherei und die Druckkosten so weit wie möglich von ihrem Taschengeld bezahlen. Dieses Geld hat - wie sie in dem Forschertagebuch festhielten - nicht immer gelangt:
Preisgeld von 2.000 Euro
Immerhin gibt es für die beiden ein finanzielles Happy End: Der erste Platz ist mit einem Preisgeld von 2.000 Euro dotiert. "Das ist so viel Taschengeld, wie ich in 16 Jahren und acht Monaten bekommen würde", sagt Steffen. Sein Preisgeld will er in weitere Bücher investieren. Welche Tipps hat er für andere Kinder, die bei dem Geschichtswettbewerb teilnehmen möchten? "Man muss sehr fleißig sein und gut in der Schule mitarbeiten, damit man nicht so viele Hausaufgaben hat", sagt er ernst. "Und man darf sich nie entmutigen lassen."