Carla Hermsdörfer braucht "im Winter, wenn die Kleidung schwerer ist", eine gute halbe Stunde, um sich anzuziehen. "Früher ging das etwas schneller." Die 50-Jährige hat kaum Kraft in ihren Händen, die ganz nah am Ellbogen schief angewachsen sind. "Dass die Daumen fehlen ist typisch für Contergan-Geschädigte," erklärt die Aachenerin. Bewegen kann sie jeweils nur den kleinen Finger. Alle anderen sind versteift. Diese Hände können weder eine Hose mit Knöpfen zumachen noch eine Flasche aufdrehen. Carla Hermsdörfer ist inzwischen auch nicht mehr so gelenkig wie früher und rascher erschöpft. Sie macht sich Sorgen, mit zunehmendem Alter hilfloser zu werden und ihre Selbständigkeit zu verlieren.
Frühzeitiger Verschleiß durch jahrzehntelange Fehlbelastung
Deshalb war es für die 50-Jährige klar, dass sie Wissenschaftlern von der Heidelberger Universität Auskunft gibt über ihre Lebenssituation. Die Forscher hatten im Auftrag der Bundesregierung zwischen 2010 und 2012 den tatsächlichen Bedarf der Contergangeschädigten an unterstützenden Leistungen ermittelt. 2.700 Betroffenen wurden angeschrieben, 900 davon haben einen Fragebogen ausgefüllt und 270 davon wurden zusätzlich persönlich befragt. Nach einem Zwischenbericht im vergangenen Jahr liegt jetzt der Endbericht vor. Der Bundesverband der Contergangeschädigten wird ihn am Montag in Berlin (28.01.2013) vorstellen. Die Autoren haben aktuelle Defizite bei der Pflege und medizinischen Versorgung festgestellt. Nur sieben Prozent können sich demnach notwendige Umbauten in der Küche oder im Bad leisten. Rund ein Drittel kann nicht mehr arbeiten. Zudem rechnen die Autoren in Zukunft mit steigendem Hilfebedarf: Durch die jahrzehntelange Fehlbelastung von Wirbelsäule, Muskulatur und Gelenken treten vermehrt Folgeschäden wie Arthrose auf. Die Heidelberger Autoren empfehlen daher unter anderem, die staatliche Conterganrente an die 2.700 Empfänger deutlich zu erhöhen. Derzeit liegt der Betrag je nach Schwere der Schädigung bei maximal 1.152 Euro im Monat. Zusätzlich erhalten sie eine jährliche Sonderzahlung.
Geld für Pflege und Helfer bereitstellen
Der Studie zufolge können sich viele Geschädigte auch nicht die Pflege und Hilfe im Alltag leisten, die tatsächlich notwendig wäre. Deshalb sollte die so genannte Assistenzhilfe unabhängig vom Einkommen sichergestellt werden. Bisher sind es meist Angehörige, auf die die Behinderten angewiesen sind. Doch diese Helfergruppe bricht mehr und mehr weg: "Inzwischen sind viele der Kinder erwachsen und wollen ihren eigenen Weg gehen. Partner oder Eltern kommen selbst in die Jahre und fallen aus", sagt Ilonka Stebritz, Sprecherin des Bundesverbandes Contergangeschädigter. Eine Erfahrung, die auch Carla Hermsdörfer gemacht hat. Noch bis vor drei Jahren lebte sie mit ihrer Mutter zusammen. "Dann ging es nicht mehr. Sie braucht selbst Pflege und ist deshalb in ein Seniorenhaus gezogen." Daher ist für Carla Hermsdörfer die ältere Schwester jetzt noch wichtiger als früher. Diese erledigt einmal die Woche den großen Einkauf und macht die Wohnung sauber. Für Carla Hermsdörfer ist es nicht einfach, immer um Hilfe zu bitten. "Ich möchte das nicht über Gebühr beanspruchen, denn das könnte belastend werden und vielleicht die Beziehung verschlechtern." Hätte sie dagegen das Geld, jemand Fremden dafür zu bezahlen, dass er das Bett bezieht, wäre das eine Dienstleistung und "damit etwas ganz anderes".
SPD-Abgeordnete: Verdoppelung der Rente
Der Bundesverband der Contergangeschädigten ist froh über den Heidelberger Bericht, denn er bestätigt die Forderung nach nachhaltiger Unterstützung. Sprecherin Ilonka Stebritz sagt: "Wir erwarten, dass bei der Rente namhaft nachgelegt wird." Eine Summe nennt sie nicht. Christel Humme, SPD-Bundestagsabgeordnete aus dem Ennepe-Ruhr-Kreis dagegen sagt Konkretes: Sie kann sich eine Verdoppelung der Conterganrente vorstellen und noch mehr. "Die Geschädigten müssen genügend Geld haben, um Pflege und Hilfe einkaufen zu können." Bereits vor drei Jahren hatte die Bundesregierung die Rente verdoppelt – mit fraktionsübergreifender Zustimmung. Kommenden Freitag (01.02.2013) findet eine öffentliche Anhörung im Familienausschuss des Bundestages statt, deren stellvertretende Vorsitzende Christel Humme ist. "Es muss schnell gehandelt werden. Ein entsprechendes Gesetz sollte noch in dieser Legislaturperiode, am besten vor der Sommerpause beschlossen werden."
Grünenthal ist raus aus der Verantwortung
Die Bundesregierung allein ist für die lebenslange Versorgung der Contergan-Opfer verantwortlich. Denn der inzwischen in Aachen angesiedelte Pharmakonzern Grünenthal, der das verhängnisvolle Beruhigungsmittel Contergan hergestellt hatte, ist juristisch nicht mehr haftbar. Grünenthal zahlte Anfang der 1970er-Jahre in eine von der Bundesregierung gegründete Stiftung eine Entschädigung von 100 Millionen Mark. Vor vier Jahren stockte die Pharmafirma den Betrag freiwillig um weitere 50 Millionen Euro auf. Die vorgesehenen Stiftungsmittel für die Rente der Contergan-Opfer sind inzwischen vollständig aufgebraucht, das Geld dafür fließt aus dem Bundeshaushalt.
Grünenthal nimmt an, genug zu helfen
Für das Pharmaunternehmen ergibt sich jetzt keine neue Situation, meint ein Sprecher bei Grünenthal und erklärt, dass die Firma vieles von dem, was der Heidelberger Bericht empfehle, bereits unterstütze. Hörgeräte oder Rollstühle zum Beispiel würden bezahlt, wenn die Krankenkasse so etwas den Geschädigten verweigere. Dafür sei im Jahr 2011 ein Härtefallfonds ins Leben gerufen worden. Bisher hätten sich 160 Contergan-Betroffene gemeldet. Fast allen sei geholfen worden. Erst kürzlich sei der Antrag einer Frau im Rollstuhl bewilligt worden, die Kosten für einen ausgebildeten Assistenzhund zu übernehmen. Wie viel Geld Grünenthal in den Härtefallfonds steckt, will der Sprecher aber nicht offenlegen.
Der Wunsch nach weniger Arbeit
Carla Hermsdörfer hält die Härtefallinitiative von Grünenthal für ein Alibi, um sich aus der Schusslinie der Kritik zu ziehen. "Die moralische Verpflichtung einer echten Unterstützung bleibt bestehen." Die Aachenerin setzt nun auf den Staat. Mit einer höheren Unterstützung könnte die Verwaltungsangestellte ihren Full-Time-Job in einem Krankenhaus reduzieren. Das wünscht sie sich, weil ihr ganzer Körper unter den Fehlbildungen leidet, und sie mehr Zeit zum Erholen braucht. Im vergangenen Jahr musste die 50-Jährige wegen Rückenproblemen ins Krankenhaus. "Der Arzt meinte: 'Solche Verschleißerscheinungen haben sonst eher 60- bis 70-Jährige'."