So richtig glauben kann Brigitte Rohr es noch nicht, was die Bundesregierung plant. Die 50-Jährige bekommt die bisher höchst mögliche Conterganrente in Höhe von 1.125 Euro. Daraus könnte bald viel mehr werden. Denn der geplante Höchstbetrag in dem Gesetzentwurf von Union, FDP und SPD liegt bei 6.912 Euro. Mit dem Freuen will die Kölnerin aber noch warten, "bis das Geld das erste Mal auf meinem Konto ist - um am Ende nicht doch noch enttäuscht zu werden".
Brigitte Rohr ist auf einem Ohr taub, hat kurze Arme und Beine, ein Hüftgelenk ist kaum vorhanden. Das alles, weil ihre Mutter während der Schwangerschaft Anfang der 60er Jahre das Schlafmittel Contergan genommen hat. Auf den Markt gebracht hatte es die Firma Grünenthal aus Stolberg. Die kann jedoch juristisch nicht mehr belangt werden, nachdem sie Anfang der 70er Jahre eine Entschädigung in eine von der Bundesregierung gegründete Stiftung eingezahlt hat. Seitdem ist der Bund zuständig für die Versorgung von derzeit 2.700 Contergan-Geschädigten.
Der Traum von mehr Betreuung
Brigitte Rohr kann sich allein weder an- noch ausziehen. Ohne Hilfe kommt sie weder in den Rollstuhl noch auf die Toilette. Morgens und abends ist der Pflegedienst bei ihr, holt sie aus dem Bett, hilft beim Waschen und wieder Zu-Bett-Gehen. Eine Familie, die ihr hilft, hat Brigitte Rohr nicht mehr. "Aber eine Nachbarin, die jederzeit einspringt." Eine Haushaltshilfe, die aufräumt und kocht, kann sie nur ein paar Stunden in der Woche bezahlen. In ihren eigenen vier Wänden zu leben, ist ihr wichtig. "Ein Heim wäre für mich die aller-allerletzte Option." Und das, obwohl ihr auch mal stundenlang keine Hilfe zur Verfügung steht. Zum Beispiel wenn sie aus dem Rollstuhl gefallen ist. Deshalb träumt die dunkelhaarige Frau davon, sich mehr Betreuung leisten zu können.
Mangel an Betreuung im Alltag
Die geplante höhere Rente für Contergan-Opfer soll das möglich machen. Sollte das Gesetz verabschiedet werden, wird es rückwirkend zum 1. Januar diesen Jahres greifen. Inzwischen haben Bundesregierung und Opposition es schwarz auf weiß, dass Contergan-Opfer mehr Betreuung und medizinische Hilfe brauchen. Vor sechs Wochen hatten Forscher der Universität Heidelberg den Abschlussbericht einer Studie vorgelegt, die belegt: Contergan-Opfer sind in vielen Bereichen unterversorgt.
Körper verschleißt schneller
Demnach ist ihr gesundheitlicher Zustand vergleichbar mit dem von 70- und 80-Jährigen, obwohl sie erst Anfang bis Mitte 50 sind. Herz-Kreislauf-Erkrankungen kommen häufen vor, auch die Schädigung von inneren Organen dem zentralen Nervensystem, der Wirbelsäule und Hüften. Manche Betroffene müssten ihre Wohnungen umbauen, um gut darin leben zu können, haben aber kein Geld dafür. Andere brauchen Zahnimplantate. Weil ihnen einzelne Gliedmaßen fehlen, haben sie jahrzehntelang andere Körperteile übermäßig beansprucht. Jetzt leiden viele unter Verschleißerkrankungen der Gelenke und starken, meist chronischen Schmerzen.
Ein Genuss: Der Austausch auf der Arbeit
"Ohne Schmerzmittel könnte ich es nicht aushalten", erzählt Brigitte Rohr. "Heute treten die Schmerzwellen in kürzeren Abständen auf als früher - und sie dauern länger. Das geht ganz schön an die Substanz." Und mit den Händen, die nur vier Finger haben, "kann ich manchmal nicht mal ein Blatt Papier festhalten. Es rutscht durch, weil ich die Finger nicht mehr zusammendrücken kann". Was ihr manchmal auch im Büro passiert. Brigitte Rohr arbeitet drei Tage die Woche als Sachbearbeiterin. Sie genießt diese Zeit. "Dann kann ich mich mit anderen Menschen austauschen. Das brauche ich einfach." Rund ein Drittel der Contergan-Opfer können der Heidelberger Studie zufolge gar nicht mehr arbeiten. So sehr sind sie beeinträchtigt.
Kritik: Gesetz wird Schwerstgeschädigten nicht gerecht
Udo Herterich, Vorsitzender des Interessenverbandes Contergangeschädigter NRW e.V., ist froh über die Pläne der Bundesregierung. Einerseits. "Damit wird unser jahrzehntelanges Leiden anerkannt", sagt der 51-Jährige, der selbst unter anderem verkürzte Beine hat. Er und andere Geschädigten-Vertreter kämpfen bereits seit Jahren wegen der Folgeschäden für finanzielle Verbesserungen. "Trotzdem bin ich nicht ganz glücklich mit dem geplanten Gesetz. Das hört sich nach viel Geld an. Ist es auch. Reicht aber weiterhin nicht, um allen ein unabhängiges Leben zu ermöglichen, wie wir es führen würden, wenn uns der Schaden nicht zugefügt worden wäre." Soll heißen: Schwerstgeschädigte wie Brigitte Rohr werden sich keine 24-Stunden-Betreuung zu Hause leisten können, selbst wenn sie knapp 7.000 Euro monatlich bekämen. "Das reicht nicht", so Herterich.
Auf der anderen Seite würden Behinderte mit weniger Schädigungen erheblich profitieren. "Viele können endlich aufhören zu arbeiten und ihren Körper schonen, sich mehr Therapien leisten", so Herterich weiter. "Für die Schwerstgeschädigten aber könnte man bei dem Gesetz sicherlich noch nachbessern."
"Experten in eigener Sache" miteinbeziehen
In dem Gesetzentwurf sind neben den höheren Renten weitere 30 Millionen Euro jährlich für zusätzliche Leistungen wie Kuraufenthalte, Physiotherapien und Zahnimplantate vorgesehen. Falls andere Kostenträger wie Krankenkassen dafür nicht aufkommen, springt die Conterganstiftung ein. Herterich sieht auch hier Korrekturbedarf: Um Willkür bei den Anträgen zu vermeiden, sollten Vertreter der Contergan-Opfer bei der Bewilligung von Hilfsmitteln eine beratende Funktion übernehmen. "Denn das sind Experten in eigener Sache."
Mal ins Kino oder Schwimmen gehen
Brigitte Rohr mag sich zwar noch nicht zur Freude hinreißen lassen, wenn sie an das Geld denkt, das sie wahrscheinlich bekommen wird. Aber ihre Stimme klingt samtweich, wenn sie über ihre Wünsche spricht: "Mal ins Kino gehen. Und ins Schwimmbad. Und endlich wieder in Urlaub fahren. Ich habe Köln seit 24 Jahren nicht verlassen."