Evelin Neuenfeldt* fällte es nach wie vor schwer, über die Geburt ihres Sohnes Jürgen zu sprechen. Über die Freude, dass nach zwei Mädchen nun ein Junge zur Welt gekommen war. Das betretene Schweigen der Krankenschwestern. Den Schock, als sie ihr Kind auf den Bauch gelegt bekommt und sieht, dass Arme und Hände missgebildet sind. "Ich habe geweint, geweint, geweint", erinnert sie sich. Hinzu kam, dass niemand wusste, warum Jürgen geschädigt war. "Nicht nur wir, auch die Ärzte tappten im Dunkeln", erzählt die 70-Jährige. "Zunächst dachte niemand an Contergan."
Gafferei und Gerede
Zurück daheim ist die Familie mit ungewohnten Reaktionen der Umwelt konfrontiert. "Die Leute guckten, drehten sich um und noch einmal. Die Gafferei und das Gerede waren anfangs schlimm." Evelin Neuenfeldt hat zunächst Hemmungen, mit ihrem Baby vor die Tür zu gehen. Erst mit der Zeit gewöhnen sich die Menschen an den Anblick von Jürgens zu kurzen Armen und missgebildeten Händen.
Verein gegründet
Probleme gibt es auch bei alltäglichen Dingen wie dem Laufen lernen: Jeder Sturz ist gefährlich, da sich der Junge nicht richtig abstützen kann. Die Eltern fragen sich: Worauf müssen wir bei Hosen, Hemden, Socken, Schuhen achten, sodass sich Jürgen selbst an- und ausziehen kann? Wie schaffen wir es, dass er alleine essen kann? Fragen, die sich auch andere Betroffene im Raum Düsseldorf stellen. Über das Gesundheitsamt, das alle Contergan-Fälle dokumentiert, finden sie Kontakt. Als Jürgen anderthalb Jahre alt ist, treffen sich die Eltern von 40 Conterganbehinderten. Sie gründen den Verein "Schutzgemeinschaft für gliedmaßengeschädigte Kinder".
In Hotels und Gaststätten nicht willkommen
Im Verein werden Erfahrungen ausgetauscht, Informationen weitergegeben, die gegenseitige Hilfe steht im Mittelpunkt. "Hier erfuhren wir, dass in Köln jemand spezielle Fahrräder für unsere Kinder bauen kann", erzählt Wilhelm Neuenfeldt. Oder dass es eine spezielle Vorrichtung gibt, die den Kindern den Gang auf die Toilette erleichtert. Er selbst organisiert Urlaubs- und Freizeitfahrten, weil "in vielen Hotels und Gaststätten Behinderte nicht willkommen waren und Gäste sich beschwerten. Doch es kommt auch Hilfe von außen: "Das Gesundheitsamt hat sich engagiert und mit seinem Einfluss sehr geholfen. "Wir besprachen, was anstand, und die Stadt Düsseldorf reagierte." So wird ein spezieller Kindergarten gegründet, später eine Behindertenschule.
"Wir wollten die Schuldigen bestraft sehen"
Jürgen ist noch im Kindergarten, als die Nachricht kommt, dass Anklage gegen mehrere verantwortliche Mitarbeiter von Grünenthal erhoben werden soll. Als 1968 der Prozess bei Aachen eröffnet wird, befinden sich auch die Neuenfeldts unter den vielen Nebenklägern. "Wir wollten unseren Sohn finanziell abgesichert und die Schuldigen bestraft sehen", sagt Evelin Neuenfeldt. Doch schon während des Prozesses kommen Zweifel, ob die Ziele erreicht werden. "Der Staatsanwalt hat einem manchmal leid getan, weil er gegen die geballte Kraft des Heers der Grünenthal-Verteidiger nicht ankam", meint Wilhelm Neuenfeldt. "Auch wenn ich es nicht beweisen kann, ich hatte den Eindruck, dass auch die Politik Einfluss auf das Verfahren nahm, um eine mögliche Grünenthal-Pleite wegen hoher Opferentschädigungen zu verhindern."
Folgeerscheinungen unterschätzt
Die Neuenfeldts sind vom Ausgang des Prozesses, der ohne Urteil eingestellt wurde, enttäuscht. "Die Verantwortlichen konnten nach Hause gehen, sich zurücklehnen und zufrieden sein. Sie kamen ungestraft davon." Auch die Entschädigung der Kinder sei nicht so ausgefallen, dass sie heute davon sorgenfrei leben könnten. "Zuerst dachten wir, 100 Millionen Mark sei viel Geld. Wer konnte ahnen, dass die Folgeschäden der Missbildungen so schwer sein würden?"
Dass die Betroffenen auf weitere Regressansprüche verzichteten, sieht Wilhelm Neuenfeldt als Fehler an. "Zumindest den Schwerstgeschädigten hätte man die Möglichkeit einräumen sollen, ihren Fall später neu bewerten zu lassen. Aus heutiger Sicht hat Grünenthal die Sache finanziell gut überstanden." Jürgen, der früher als technischer Zeichner arbeitete, lebt nun von einer Erwerbsunfähigkeits-, Grundsicherungs- und Conterganrente in Höhe von monatlich 545 Euro. Wegen seiner Schädigungen und den Folgeerkrankungen musste er den Beruf aufgeben.
* Namen geändert