Porträt über Widukind Lenz
Der Mann, der Contergan stoppte
Stand: 27.11.2006, 11:00 Uhr
Im Jahr 1961 stehen die Ärzte vor einem Rätsel: Warum werden plötzlich viele missgebildete Kinder geboren? Widukind Lenz glaubt, dass Contergan die Ursache ist. Der Arzt veröffentlicht seinen Verdacht - und setzt seine Karriere aufs Spiel.
Von Stefanie Hallberg
Juni 1961: Ein Ehepaar wendet sich an die Hamburger Universitätskinderklinik. Es will herausfinden, warum sein Sohn mit missgebildeten Armen und Händen geboren wurde. Der junge Kinderarzt und Humangenetiker Widukind Lenz wird hinzugezogen. Zuerst wird vermutet, es könnte sich um eine erblich bedingte Krankheit handeln. Doch dann erzählt der Vater, dass es in seinem Heimatort Menden weitere Fälle von Fehlbildungen bei Neugeborenen gibt.
Selbst im Bett keine Ruhe
Lenz ist alarmiert. "Mein Mann wollte unbedingt herausfinden, was die Schädigungen verursacht", erzählt seine Witwe Almuth Lenz. Der Arzt greift zum Telefon, um die Angaben zu überprüfen. Er knüpft Kontakte zu Ärzten und Wissenschaftlern. Das Thema lässt ihn nicht mehr los. "Wir haben selbst abends im Bett noch überlegt, was die Schädigungen verursacht haben könnte", erinnert sich seine Frau, selbst promovierte Ärztin.
Suche in der Hausapotheke
Anfang November 1961 fällt Lenz auf, dass mehrere betroffene Mütter angegeben hatten, während der Schwangerschaft Contergan genommen zu haben. Er fragt nun ganz gezielt nach: Haben Sie eine Hausapotheke? Dürfen wir mal in ihre Nachtschublade gucken? Welche Medikamente haben Sie in der frühen Schwangerschaft genommen? "Lenz ermittelte wie ein Staatsanwalt, nicht wie ein objektiver, kontaktscheuer Wissenschaftler, der nur das verwertet, was ihm bekannt wird", meint Hans-Jochen Luhmann vom Wuppertal Institut. "Für mich ist er der eigentliche Held dieser Geschichte."
Für die Wahrheit durch dick und dünn
Lenz gilt als ehrlich, freundlich, wissbegierig: Einser-Abitur, Doktorarbeit mit Eins, er spricht mehrere Sprachen. Der damals 42-Jährige ist ruhig und bescheiden. Er malt gerne, schreibt Gedichte und veranstaltet für seine Kinder Mäuserennen auf der Terrasse. "Mein Mann war nur ein kleiner Doktor, den keiner kannte", erinnert sich Almuth Lenz. Was veranlasst ihn, sich im Contergan-Fall derart zu engagieren? "Wenn es der Wahrheit diente, hat er sich auch in die Nesseln gesetzt. Dafür ging er durch dick und dünn", erklärt seine Frau. Oder erfüllte er eine Art "lebensgeschichtlicher Auftrag", wie Luhman meint? Widukind Lenz ist der Sohn von Fritz Lenz, einem der führenden Rassenhygieniker und Eugeniker im Dritten Reich. Er wird wie sein Vater Humangenetiker, meidet aber politische Ideologien. Luhmann: "Für mich ist sein Verhalten ganz klar eine Wiedergutmachung, und zwar genau an der richtigen Stelle."
"Verantwortung als Mensch und Staatsbürger"
Am 15. November 1961 informiert Lenz den Forschungsleiter von Grünenthal, Heinrich Mückter, über seinen Verdacht. Der Arzt fordert, sämtliche Thalidomid -haltigen Produkte aus dem Handel zu entfernen. Juristisch umsichtig schickt er einen Tag später ein Einschreiben an die Firma, in welchem er seine Vermutung begründet. Lenz will nicht mehr warten. Jeder Tag des Schweigens bedeutet für ihn, dass weitere Contergan-Opfer geboren werden können. Obwohl die Datenlage wissenschaftlich nicht gesichert ist, veröffentlicht er am 19. November seinen Verdacht vor der Vereinigung Rheinisch-Westfälischer Kinderärzte - ohne einen Namen zu nennen. "Als Mensch und Staatsbürger kann ich es nicht verantworten, meine Beobachtungen zu verschweigen", sagt er. Er setzt eine Kettenreaktion in Gang, die bald darauf mit der Rücknahme von Contergan endet.
Drohungen und Diskreditierung
Als Lenz sein Schweigen bricht, beginnen die Schwierigkeiten. Almuth Lenz erinnert sich an den 20. November, als leitende Herren der Firma Grünenthal erscheinen. Sie werfen Lenz Rufmord vor und drohen mit juristischen Schritten. "Mein Mann wurde mehrere Tage lang regelrecht bespitzelt", erzählt seine Frau. "Grünenthal hat alles versucht, um ihn und seine Arbeit zu diskreditieren. Unter anderem brachte die Firma die Vergangenheit meines Schwiegervaters ins Spiel." Auch Forscher greifen Lenz an. Er sei unwissenschaftlich vorgegangen und habe sich so illegitim die Rolle des Erstentdeckers erschlichen. Ärzte beschweren sich, dass viele schwangere Frauen unnötig beunruhigt würden. Im Contergan-Prozess wird er auf Drängen der Grünenthal-Anwälte als Sachverständiger wegen Befangenheit entlassen.
Vaterfigur für Contergangeschädigte
Zu der Zeit ist Lenz seit drei Jahren Direktor des Humangenetischen Instituts in Münster. Er reist viel, mal zu Kongressen, mal quer durch Japan, um in Waisenhäuser abgeschobene Contergan-Kinder zu finden und ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Lenz wird das Bundesverdienstkreuz und die Ehrendoktorwürde verliehen. "Auch wenn mein Mann berühmt geworden ist, er hat nie den Höhenkoller bekommen", sagt Almuth Lenz. Mit den Contergangeschädigten hält Widukind Lenz bis zu seinem Lebensende Kontakt. "Jeder konnte jederzeit zu ihm kommen, er war für sie ja wie ein Vater." Als er 1995 stirbt, steht in der Todesanzeige: "Wie bitten von Blumenspenden abzusehen. Eine Spende zugunsten Thalidomid-Geschädigter in Brasilien wäre im Sinne des Verstorbenen."