Gedenkfeier für Mehmet Kubaşık
"Heute fühle ich den Schmerz"
Stand: 07.04.2012, 11:30 Uhr
Mit einer Gedenkfeier haben in Dortmund 1.500 Menschen der mutmaßlichen Opfer der Neonazi-Morde gedacht. Unter ihnen war auch Gamze Kubaşık, die Tochter des nach bisherigen Erkenntnissen von der NSU ermordeten Dortmunder Kioskbesitzers Mehmet Kubaşık. "Kein Mensch soll so leiden wie wir", sagte sie.
Von Martina Züger
Auf ihr Wort haben alle gewartet. "Jahrelang wussten wir nicht warum und weshalb", sagt schließlich Gamze Kubaşık über den Tod ihres Vaters Mehmet Kubaşık. Er wurde am 4. April 2006 in seinem Kiosk in der Dortmunder Nordstadt erschossen. "Es waren Neonazis. Ich kann es nicht akzeptieren, dass mein Vater so sinnlos sterben musste. Ich finde keine Worte dafür. Kein Mensch soll so leiden wie wir."
1.500 hören die Rede von Gamze Kubaşık
Ausgesprochen werden die Sätze auf einer Waldlichtung in der Dortmunder Bittermark; in der Mitte steht das Mahnmal, ein grauer Granitblock, aus dem sich ausgehungerte Figuren schälen. Die Stadt erinnert hier seit 52 Jahren, immer am Karfreitag, an mehrere hundert NS-Zwangsarbeiter und Widerständler, die in den Wäldern mit Genickschüssen getötet und verscharrt wurden. Die Amerikaner standen da schon an der Stadtgrenze. Dieses Jahr kommt nun das Gedenken an die zehn Opfer der Zwickauer Terrorgruppe hinzu. Gamze Kubaşıks Auftritt ist stark, gerade weil er nur wenige Minuten dauert. Rund 1.500 Menschen hören ihr zu.
Für Gamze Kubaşık ist es nicht der erste Auftritt
Seit 52 Jahren: Gedenken am Dortmunder Mahnmal
Auch Gamze Kubaşık hat in der Schule die NS-Zeit behandelt. "Wie kann man so einen Schmerz verkraften, dachte ich. Heute denke ich es nicht, heute fühle ich es." Sie hat schon andere große Auftritte absolviert. Bei der Gedenkfeier in Berlin am 23. Februar trug sie gemeinsam mit Semiya Simsek, der Tochter eines weiteren mutmaßlichen NSU-Opfers, eine Kerze aus dem Saal, aufrecht und stolz. Die 1.200 Gäste applaudierten im Stehen. Am 18. März war sie wieder in Berlin und wählte Joachim Gauck zum Bundespräsidenten. Entsandt hatten sie die NRW-Grünen. "Ich stehe nicht nur für mich hier, sondern ich stehe auch hier für meinen Vater", sagte sie damals einer Zeitschrift.
Die Feier bleibt seltsam deutsch
Am Ende ihre Rede zitiert sie - wie bei der Berliner Feier - das Gedicht "Leben" des türkischen Dichters Nâzım Hikmet. "Leben wie ein Baum, einzeln und frei und brüderlich wie ein Wald. Das ist unsere Sehnsucht." Dennoch bleibt die Feier seltsam deutsch. Menschen mit ausländischen Wurzeln sind kaum zu sehen. Die anderen neun mutmaßlichen Opfer der NSU, acht Migranten und eine deutsche Polizistin, werden nur am Rand erwähnt, obwohl die Feier als "Erinnerung an die Opfer der Neonazi-Mordserie" angekündigt wurde.
Gedenken an die NS-Zwangsarbeiter steht im Mittelpunkt
In diesem Jahr gehört die Feier noch immer den Antifagruppen, den Linken, den jungen Sozialisten, den Gewerkschaftern, den Lehrern und Friedensbewegten. Sie gehört Menschen wie Georg Marschefski (49), der hier jedes Jahr seinem Großvater Erich Mörchel gedenkt. Als KPD-Mitglied verbrachte Mörchel mehrere Jahre in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Nach schweren Folterungen wurde er im Dortmunder Rombergpark ermordet.
Den NS-Opfern ein Gesicht geben
Elf Schüler aus Dortmunder Schulen haben die Feier organisiert und auch ihnen gelingen starke Redebeiträge. Sie geben den namenlosen Dortmunder NS-Opfern ein Gesicht, stellen Julie Risse vor, eine Essener Jüdin, und den französischen Kriegsgefangenen Léon Chadirac. Die Jugendlichen haben 15 Erinnerungstafeln an die Buchen gebunden, die den Weg zum Mahnmal säumen, zum Beispiel über Erich Mörchel. "Es ist seltsam, dass junge Leute, die nichts mehr mit der damaligen Zeit zu tun haben, meine Verwandten zitieren und Bilder von ihnen aufhängen", sagt Georg Marschefski.
Gamze Kubaşık möchte wiederkommen
Als die Birken und Kiefern immer mehr Sonnenstrahlen abfangen, wird es kühl auf der Lichtung. Der Kinderchor singt, "dann zieh'n die Moorsoldaten nicht mehr mit dem Spaten ins Moor." Die Jugendlichen verteilen rote und weiße Nelken, mit dem Auftrag an die Gäste, sie an einem Ort in der Bittermark niederzulegen. Nach der Feier kommen immer wieder Menschen auf Gamze Kubaşık zu. Emotional sei ihre Rede gewesen, berührend und stark. Einige fragen, wie ihr Name denn nun ausgesprochen wird. Sie wolle im nächsten Jahr wiederkommen, verspricht sie. Einige Journalisten wollen noch Fotos oder ein kurzes Statement. Irgendwann sagt sie: "Ich möchte nichts mehr sagen. Ich habe alles gesagt." Sie entschwindet mit ihrem Begleiter zwischen den weißen Plastikstühlen und man weiß nicht, wo sie die beiden Nelken ablegen wird.